Hans-Christof Kraus / Thomas Nicklas (Hgg.): Geschichte der Politik. Alte und neue Wege (= Historische Zeitschrift. Beihefte. Neue Folge; Bd. 44), München: Oldenbourg 2007, 420 S., ISBN 978-3-486-64444-9, EUR 79,80
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Letztlich ist ein Sammelband immer nur so gut, wie seine Einleitung in kohärenter Weise gemeinsame Leitfragen entwickelt, die in den Beiträgen halbwegs systematisch abgehandelt werden. Die Herausgeber des hier angezeigten Beihefts der Historischen Zeitschrift beschränken sich jedoch notgedrungen auf einen sehr knappen historiographiegeschichtlichen Abriss und kurze Zusammenfassungen der Aufsätze. Diese verbindet unter dem Strich nur die Ablehnung eines "ausschließlich kulturalistischen Zugriffs" (2) auf die Geschichte der Politik und ein vages Plädoyer für eine fortgesetzte Konzentration auf "politisches Handeln", "Entscheidungen" und "Macht und Herrschaft" (1) - verbunden mit einem vielerorts durchaus zum guten Ton gehörenden Bielefeld-Bashing in Abgrenzung zum dortigen Sonderforschungsbereich Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte mit seinem in der Tradition Wehlers und Kockas krass überzogenen, aber oft bauernschlau verkauften Anspruch, Hort innovativer historischer Forschung zu sein. Was "alte" und "neue" Wege der historischen Politikforschung sein mögen, bleibt dabei in der Einleitung im Halbdunkel schaler Phraseologie: Historiker sollen "auf ihren geschichtlichen Wanderungen von den Archiven ausgehen", wo "vergangenes Leben" auf sie "wartet".
Für ihre Wanderungen haben die Autoren verschiedene historiographische Territorien gewählt, und die meisten Beiträge wählen erfreulicherweise einen unideologischen und für Anregungen aus der Gesellschafts- und Kulturgeschichte durchaus offenen Zugang - ähnlich wie in einem ersten Band dieses informellen Netzwerkes [1], in dem Ulrich Lappenküper allerdings konträr dazu mit Aplomb auf einem "Primat der Außenpolitik" bestand. So plädiert Eckhardt Conze für einen strukturgeschichtlichen Zugang zum Verständnis der Evolution des "internationalen Systems" in der Neuzeit, der für theoretische Anregungen aus den Sozialwissenschaften - hier vor allem den Internationalen Beziehungen - offen ist. Am Beispiel der liberalen Bewegungen und Parteien im 19. Jahrhundert veranschaulicht Conze darüber hinaus überzeugend, wie gesellschaftliche Forderungen im Innern, in diesem Fall etwa nach Überwindung einer sozial elitären Gesellschaft und nach wirtschaftlicher Freiheit, das monarchisch geprägte Staatensystem des Wiener Kongresses unterminierte, also gesellschaftliche und internationale "systemische" strukturelle Veränderungen eng mit einander verknüpft waren und sind.
In seinem Beitrag widmet sich Andreas Rödder - anders als Conze ein selbst deklarierter "konservativer" Historiker - dem NATO-Doppelbeschluss, jedoch keinesfalls bloß dessen strategischer oder politischer Bedeutung im Rahmen des Atlantischen Bündnisses, sondern auch der gesellschaftlichen Protestbewegung dagegen in der Bundesrepublik Deutschland. Zwar, so argumentiert Rödder, hätten sicherheitspolitische Logik und Bündniszwänge die Durchsetzung des NATO-Beschlusses ermöglicht, doch habe die gesellschaftliche Protestbewegung langfristig "den sicherheitspolitischen Konsens" aufgezehrt (104) und die Bedingungen für Handeln im Bündnis verändert. Wenngleich etwas lehrbuchartig argumentierend, stimmt Rödder insofern implizit Conzes Plädoyer für eine integrierte Analyse gesellschaftlicher und internationaler politischer Prozesse zu, wenngleich beide Autoren dies nur in einem nationalen und nicht zumindest auch transnationalen Kontext exemplifizieren. Dessen Berücksichtigung scheint wegen der Instrumentalisierung des Begriffs unter dem Banner der "Zivilgesellschaft" durch frühere "Bielefelder" für Kampagnen zur Drittmittelbeschaffung schon wieder unter linkem Ideologieverdacht zu stehen.
Für kultur-, nicht gesellschaftsgeschichtliche Anregungen dezidiert offen gibt sich Matthias Schnettger in seinem Plädoyer für eine neue, nicht-borussische Sicht auf das Alte Reich (die allerdings von Michael Hochedlinger in seinem Beitrag schneidend karikiert wird). So neu ist dieser Blick womöglich nicht, sondern steht in der Tradition einer katholisch-föderalistischen und Preußen-kritischen Historiographie, wird hier allerdings kulturalistisch anverwandelt, indem die Informalität und politische Symbolik herrschaftlichen Handelns im Alten Reich betont wird - wobei die wissenschaftspolische Konjunktur dieser Forschungsrichtung womöglich auch durch die zeitgenössische Erfahrung der Integration in der Europäischen Union getragen wird, deren Regierungsformen in ähnlicher Weise informell und unscharf erscheinen könnten.
Bernhard Löffler thematisiert in seinem Aufsatz eine neuere Geschichte von (formellen) Institutionen "in kulturhistorischer Erweiterung" (155). Dieser Begriff ist insofern zweideutig, als dieser Ansatz ursprünglich weniger von der Kulturgeschichte als historischer Teildisziplin als vielmehr aus den neuen "Institutionalismen" in der sozialwissenschaftlichen Forschung angeregt worden ist. Vor allem die einschlägige soziologisch inspirierte Forschung hat sich vermehrt für die "Kultur" von Institutionen und die Herausbildung informeller Verfahrensprozesse interessiert, die in einer historisch-institutionalistischen Perspektive so genannte "Pfadabhängigkeiten" nach sich ziehen, die auch unter ähnlichen systemischen Bedingungen (wie Globalisierungsdruck) in verschiedenartigen Reaktionen und Anpassungsstrategien resultieren. Löffler bezieht sich auf diese Forschung (159f.) und veranschaulicht seine Überlegungen anhand des Bundeswirtschaftsministeriums in den 1950er und 1960er Jahren.
In seinem sehr polemischen Beitrag verlangt Hochedlinger - im Ergebnis in klarer Abgrenzung zu Schnettger - nach einer Rückbesinnung auf die Politikgeschichte der frühen Neuzeit als "Machtstaatsgeschichte". Teilbereiche wie Militär und Außenpolitik seien integriert zu erforschen, aber immer unter Berücksichtigung eines "Primats der Machtpolitik". Studien zur Geschichte "internationaler Beziehungen", beklagt Hochedlinger, ohne konkrete Literaturhinweise zu geben, diskutierten bloß theoretische Fragen und stützten sich dabei auf empirische Forschungen anderer. Diese Forscher wollten keine "Geschichtshandwerker" mehr sein, sondern forcierten eine "Vergeistigung der Staats- und Politikgeschichte" (246) mit verheerenden Folgen: "Etikettenschwindel" und "Substanzlosigkeit" (263).
Wenngleich die meisten Beiträge für sich genommen lesenswert sind, ergeben sie gemeinsam noch keine kohärente Forschungsagenda. Auch erscheint es absurd, vor möglichen "karrierestrategisch-individuellen Implikationen" und Motiven "Bielefelder" Forderungen nach einem Paradigmenwechsels in der Politikgeschichte zu warnen (12), wenn dieses informelle Netzwerk (wie einzelne Forscher ohne weiteres konzedieren) ebenso darauf zielt, Privatdozenten auf eine Professur zu hieven. In einer Außensicht auf deutsche Forschungsdebatten ähneln sich die verschiedenen Pole der Diskussion über Politikgeschichte vielmehr noch in zwei anderen Punkten in eklatanter Weise, nämlich dem fortgesetzten selbst-referentiellen Hauptbezug auf die Geschichte Deutschlands und der deutschen Staaten und durch ihre krasse Ignoranz hinsichtlich wirtschaftlicher Bedingungen gesellschaftlicher Entwicklung und politischen Handelns.
Anmerkung:
[1] Eckart Conze / Ulrich Lappenküper / Guido Müller (Hgg.): Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln 2004.
Wolfram Kaiser