Keith Lowe: Inferno. The Devastation of Hamburg 1943, London: Viking 2007, xix + 489 S., ISBN 978-0-670-91557-6, GBP 25,00
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Die schwere Zerstörung Hamburgs durch die alliierte "Operation Gomorrha" im Juli 1943 hat für britische und amerikanische Autoren seit langem eine starke Anziehungskraft. Von Dresden abgesehen, liegen wohl für keine andere deutsche Stadt so viele englischsprachige Darstellungen der angloamerikanischen Bombenangriffe vor. Trotz dieser zahlreichen Vorarbeiten dürfte Keith Lowes jüngster Beitrag zur Hamburger Luftkriegsgeschichte nicht nur beim historisch interessierten Publikum, sondern auch in der Geschichtswissenschaft auf großes Interesse stoßen. Zum einen erschienen die letzten Darstellungen in den Achtziger Jahren, so dass Historiker gespannt sein dürften, ob und inwiefern neuere sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven Einfluss auf die Darstellung der alliierten Bombardierungen gewonnen haben. Und zum anderen ist der Luftkrieg in den letzten Jahren zu einem ebenso beliebten wie umstrittenen Forschungsfeld avanciert, mit dem sich nicht zuletzt grundlegende moralische Fragen verbinden. Angesichts der Debatte um die Recht- oder Verhältnismäßigkeit des Bombenkrieges, wie sie jüngst von Graylings "Among the Dead Cities" erneut angestoßen wurde [1], wird man auf Lowes Antworten zu diesen Fragen gespannt sein.
Trotz einer Dramaturgie, die zielstrebig auf den Hamburger "Firestorm" (so das gleichnamige Kapitel) als Höhepunkt und "turning point of the war [...] for German civilians" (235) zusteuert, ist die Darstellung ebenso ausgewogen wie vielschichtig, was sich vor allem auf eine breite Quellenbasis zurückführen lässt. Lowe greift nicht nur auf zahlreiche veröffentlichte Berichte und Archive zurück, er stützt sich auch auf zahlreiche Interviews, die er in den letzten Jahren mit Hamburger Zeitzeugen der Angriffe sowie mit britischen und amerikanischen Bomberbesatzungen geführt hat. Nicht zuletzt dank dieser Oral-History-Quellen erweitert "Inferno" die Perspektive auf den Luftkrieg erheblich, geraten Voraussetzungen, konkrete Planungen und unmittelbare Folgen ebenso in den Blick wie die langfristigen mentalen Nachwirkungen des "area bombings". "Inferno" entwirft daher auf der Grundlage zahlreicher Ego-Dokumente eine ungemein dichte Erfahrungsgeschichte des Luftkriegs von "oben" und "unten" - nämlich aus Sicht der RAF-Besatzungen und der Betroffenen in den Luftschutzkellern, Bunkern oder auf der Flucht.
Obgleich dabei auch einzelne Schilderungen von KZ-Häftlingen und Zwangsarbeitern zu finden sind, bleiben deren Schicksale als Verfolgte und Verschleppte des NS-Regimes stellenweise etwas unterbelichtet. Berichte wie die der polnischen Zwangsarbeiterin Wanda Chantler haben in ihren Beschreibungen der Kriegsschrecken zwar fraglos "an apocalyptic quality" (266). Umfangreichere Passagen zu den Erfahrungen der "zweiten Gefahr", wie Ralph Giordano den Hamburger "Feuersturm" mit Blick auf Verfolgung und Deportationen genannt hat, hätten die dritte hier entworfene Perspektive auf den alliierten Bombenkrieg indes noch vertiefen können. Gleichwohl sind diese Lücken weniger ein Kritikpunkt an der Darstellung als Folge der schwierigen Quellenlage. Insgesamt unterstreichen die zahlreichen Augenzeugenberichte oder nachträglichen Erinnerungen, beispielsweise die Schilderungen des Überlebenskampfes im Cockpit (254ff.) oder in der "City of Dead" (287ff.), den hervorragenden Gesamteindruck von Lowes dichter Darstellung: "Inferno" verfolgt zwar eine klare Zielsetzung, soll doch am Hamburger "Feuersturm" die Auffassung korrigiert werden, "that war is somehow a glorious or heroic undertaking" (XVII). Aber Lowe versucht keineswegs, seine Leser mit Zuspitzungen und Emotionalisierungen zu überwältigen, wie der Titel vermuten lassen könnte. Im Gegensatz zu anderen Veröffentlichungen der letzten Jahre, die mit Suggestivstil und plakativen bis polemischen Verkürzungen den alliierten Bombenkrieg gegen Deutschland "Brand"-markten, bietet "Inferno" eine differenzierte Darstellung und abwägende, geradezu vorsichtige Bewertung der Angriffe.
Dass sich der Band im Abschnitt "Reckoning" auch der bis heute anhaltenden Diskussion des "area bombings" ausführlich widmet, ist dabei ein weiterer Vorteil gegenüber vielen neueren Veröffentlichungen - und zwar in zweifacher Hinsicht: Lowe kann erstens zeigen, dass die "Operation Gomorrha" bis heute gesellschaftliche Bedeutung behalten hat und in ihren unterschiedlichen Interpretationen nach wie vor als politisches Argument fungiert. Und zweitens weist Lowe mit der "Nachgeschichte" der Angriffe direkt auf die aktuelle Debatte des alliierten Bombenkriegs hin, verbinden sich doch auch heute mit den jeweiligen Deutungen der Vergangenheit sehr aktuelle Absichten, die mit der jeweiligen "Geschichte" des Luftkriegs begründet werden sollen. Lowe erläutert daher Konnotationen und Motive der unterschiedlichen Argumentationen und bezieht diese durchaus kritisch auf die Ergebnisse seiner eigenen Darstellung. Auf die Leitfrage des Buches - "did it shorten the war to any degree" (322) - findet sich in sozialgeschichtlicher oder militärhistorischer Perspektive daher keine eindeutige Antwort. Ein angemessenes Gedenken an die Flächenbombardements oder gar "Redemption", so das gleichnamige letzte Kapitel, ist für Lowe allein auf einer individuellen Ebene vorstellbar. "From a christian point of view" (345), so schließen diese Überlegungen, könnten im Anblick des "Inferno" sogar jene bedauert werden, "who have comitted the most heinous crimes" (345) - selbst wenn Fragen nach Ursachen, Verantwortung und Schuld mittlerweile geklärt seien.
Nicht nur wegen dieser abschließenden Bemerkungen ist Lowes Darstellung für die aktuelle Debatte und die Geschichtsschreibung des Luftkriegs ein wichtiger Beitrag. "Inferno" ist eine packend zu lesende Beschreibung des alliierten Bombenkrieges aus den unterschiedlichen Perspektiven der Betroffenen in der Luft und am Boden. Zugleich bietet Lowe eine nachdenkliche Auseinandersetzung mit der Frage nach Sinn und Verhältnismäßigkeit der Flächenbombardements, oder kurz: "Inferno" wirft mit seiner Alltags- und Erfahrungsgeschichte des Luftkriegs zentrale Fragen auf - ohne diese vorschnell zu beantworten.
Anmerkung:
[1] Vgl. Dietmar Süß, Rezension zu: A. C. Grayling: Among the Dead Cities. Was the Allied Bombing of Civilians in WWII a Necessity or a Crime? London 2006, in: H-Soz-u-Kult, 20.03.2007, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-1-188
Malte Thießen