Frank M. Bischoff / Peter Honigmann (Hgg.): Jüdisches Archivwesen. Beiträge zum Kolloquium aus Anlass des 100. Jahrestags der Gründung des Gesamtarchivs der deutschen Juden, zugleich 10. Archivwissenschaftliches Kolloquium der Archivschule Marburg, 13. - 15. September 2005 (= Veröffentlichungen der Archivschule Marburg; Nr. 45), Marburg: Archivschule Marburg 2007, 430 S., ISBN 978-3-923833-10-8, EUR 28,60
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Die historische Überlieferung jüdischer Institutionen und Personen teilt das Schicksal derer, die sie hauptsächlich betrifft: Einerseits ist sie sehr reich und vielgestaltig aufgrund der unterschiedlichen jüdischen Kulturen und Traditionen weltweit, andererseits ist sie durch Migration fragmentiert und im Zuge von Verfolgungen und Vernichtung oft verloren gegangen. Jüdisches Leben für die Nachwelt zu überliefern, stellt somit eine besondere Herausforderung dar, zumal sich die archivrechtlichen Voraussetzungen in allen Staaten und Ländern mit jüdischer Bevölkerung unterscheiden.
Heute bemühen sich jüdische und nichtjüdische Einrichtungen weltweit darum, die vorhandenen Unterlagen zu erfassen, zu sichern und zur Nutzung zur Verfügung zu stellen sowie Perspektiven für die entstehende Überlieferung zu entwickeln. Damit setzen sie die Tradition des Gesamtarchivs der deutschen Juden fort, dessen hundertstem Gründungsjubiläum der zu besprechende Sammelband und die ihm zugrunde liegende Tagung im Jahr 2005 gewidmet sind. Der Band vereint 19 Beiträge aus Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Polen, der Schweiz, Israel und den USA in folgenden sechs Sektionen: Formen jüdischer Archivorganisation, Displaced Archives - Entstehung einer archivischen Nachkriegsordnung, Spezielle Quellengruppen, Nationale Modelle und Erfahrungen, Bedingungen der Kommunikation, Spezialinventare, ergänzt um Kurzviten der Beiträgerinnen und Beiträger.
In ihrer Einleitung betonen Frank M. Bischoff und Peter Honigmann die Notwendigkeit, das vergleichsweise junge jüdische Archivwesen weiterzuentwickeln und die Aktivitäten der eher neben- als miteinander arbeitenden Institutionen auf lokaler, regionaler, nationaler und internationaler Ebene stärker miteinander zu verzahnen. Als Herausforderungen sehen sie vor allem die weitgehend ungeregelte Archivierung der Unterlagen, die Rekonstruktion verloren gegangener Materialien und Zusammenhänge von Überlieferung sowie die nachträgliche Zusammenführung verstreuter Informationen durch Duplizieren, Online-Bereitstellung und die Anfertigung von thematischen Übersichten (Inventaren).
Mit den Anfängen des jüdischen Archivwesens befassen sich die Beiträge zum Gesamtarchiv der deutschen Juden von Barbara Welker und zur Oral History nach den Verfolgungen von Kischinjow (1903) von Laura Jockusch. Sie zeigen die beiden Stränge auf, welche im 20. Jahrhundert die Einrichtung von Archiv- und Dokumentationsstellen jüdischen Lebens motivierten: Das spezifisch Jüdische innerhalb einer nichtjüdischen Umgebung festzuhalten und Rechts- und Erinnerungsgrundlagen für die zahlreichen Fälle von Verfolgungen zu schaffen.
Zu letzteren zählt das Untergrundarchiv des Warschauer Ghettos mit dem Projekt einer standardisierten Befragung von ca. 7.300 Zeitzeugen in den Jahren 1944-1948, von dem Feliks Tych berichtet und dessen Edition noch andauert. Das 1926 in Wilna gegründete YIVO-Archiv dagegen war als Einrichtung des YIVO-Instituts zur Erforschung jüdischen Lebens in Osteuropa errichtet worden. Die Geschichte des von den Nationalsozialisten geplünderten, von den sowjetischen Truppen weiter zerstreuten und schließlich zum Teil in die USA transferierten Archivs schildert Marek Web. Mit ähnlichen Schicksalen jüdischer Unterlagen befasst sich Elijahu Tarantul in seinem Beitrag zu jüdischen Akten im Moskauer Sonderarchiv. Von der sowjetischen Führung verschwiegen, wurden die aus vielen Teilen Europas stammenden Unterlagen erst nach der Auflösung der UdSSR für die Forschung nutzbar. Viele Fragen der Rückgabe von Archivgut sind weiterhin offen; der wohl bekannteste Fall ist der des Rathenau-Nachlasses.
Neben Fragen historischer Archivgründungen und den "Displaced Archives" enthält der Sammelband viele Beiträge zu aktuellen Aufgaben der Archivierung jüdischer Unterlagen. Bei den Betrachtungen aus nationalem Blickwinkel ist neben dem von Uriel Gast zur Schweiz und David Frei zu Großbritannien besonders der Beitrag von Georges Weill für Frankreich hervorzuheben. Er fragt nach dem generellen Zusammenhang von rechtlichen Rahmenvorgaben des Staates und den Unterlagen religiöser Gemeinschaften. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Verstaatlichung von Archivgut - wie 1789 bei der katholischen Kirche in Frankreich - dann positiv zu bewerten ist, wenn die Vorgaben überwacht und die Unterlagen fachlich betreut werden. Der ungeklärte Rechtsstatus von Archivgut anderer religiöser Gemeinschaften führte dagegen oft dazu, dass es durch Vernachlässigung verloren ging. Die Gründe sind im jüdischen Bereich nach Einschätzung Weills oft in der Geringschätzung profanen Verwaltungsschriftgutes zu sehen.
Mit den Problemen der Übernahme von Unterlagen jüdischer Provenienz setzt sich auch Peter Honigmanns Beitrag auseinander. Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen solchen Unterlagen, die im Rahmen allgemeiner Verwaltungstätigkeit in nichtjüdischen Einrichtungen überliefert sind, etwa in staatlichen und Kommunalarchiven [1], und solchen, die bei jüdischen Vereinen, Verbänden und Gemeinden anfallen. Die staatlichen Archivgesetze in Deutschland gelten nicht für Religionsgemeinschaften. Um die Überlieferung zu sichern, bemüht sich das Heidelberger Zentralarchiv darum, Unterlagen, die nicht von den jüdischen Gemeinden und Einrichtungen selbst fachlich betreut werden, als Eigentum oder Depositum aufzunehmen und religiöse Vorbehalte zu berücksichtigen. So ist das informationelle Selbstbestimmungsrecht seit Jahrhunderten Gegenstand der Auslegung von Rabbinern. Ihre Ergebnisse stehen zum großen Teil im Einklang mit den Datenschutz- und Archivgesetzen in Deutschland und bedeuten keine Kollision.
Der vorliegende Sammelband bietet einen Einblick in den aktuellen Stand des jüdischen Archivwesens aus internationaler Perspektive und entwickelt somit die bisherigen Darstellungen weiter [2]. Die Mehrheit der Beiträge [3] steht tatsächlich im Einklang mit den Wünschen der Veranstalter, indem sie eine übergreifende Perspektive jenseits der bloßen Vorstellung einzelner Einrichtungen oder Projekte entwickeln. Für künftige Projekte in diesem Themenbereich empfiehlt es sich, den Stand der Archivierung digitaler Unterlagen zu berücksichtigen, wie es die Herausgeber anregen. Interessant wäre auch ein Einblick in die Überlieferungssituation, die sich nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Regimes in Osteuropa sowohl dort wie auch, als Folge der jüdischen Abwanderungswellen, in den Zielländern ergeben hat.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu die Beiträge im Band von Jürgen Sielemann über die Hamburger Gemeindeakten, J. Friedrich Battenberg zum Staatsarchiv Darmstadt und Albrecht Eckhardt über nordwestdeutsche Staatsarchive.
[2] Zur Situation in Deutschland vgl. z.B. Peter Honigmann: Geschichte des jüdischen Archivwesens in Deutschland, in: Der Archivar 55 (2002), Heft 3, 223-230; für Frankreich die Literaturangaben im Anhang zu Weills Beitrag, 301-303.
[3] Weitere Beiträge befassen sich mit der Informationsorganisation wie der physischen und virtuellen Zusammenführung von Unterlagen sowie Übersichten in Form von Inventaren, mit speziellen Ausschnitten wie der Holocaust-, der Familien- oder Frauenforschung. Eine Übersicht über die Themen bietet der Tagungsbericht: Ragna Boden: Jüdisches Archivwesen, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=864 (12.12.2006).
Ragna Boden