Jörg Reimann: Venedig und Venetien 1450 bis 1650. Politik, Wirtschaft, Bevölkerung und Kultur (= Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit; Bd. 46), Hamburg: Verlag Dr. Kovač 2006, 338 S., ISBN 978-3-8300-2590-0, EUR 88,00
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Zwischenzeitlich drängte sich mir die Überlegung auf, die Zusage zur Besprechung dieses Buchs wieder zurückzunehmen. Nicht nur, dass die Lektüre keine besondere Freude machte, sondern die Aussicht, den gewonnenen Eindruck in Worte zu fassen, die dem Gegenstand gerecht werden, war nicht eben verlockend. Doch dann: Auch schlechte Bücher müssen gelesen und besprochen werden, vielleicht noch aufmerksamer als die guten.
Den Inhalt des Buches wiederzugeben, scheint zunächst kein größeres Problem darzustellen. Der Titel verrät schon das Wesentliche. Es soll um eine Darstellung Venedigs und des venezianischen Herrschaftsbereichs im Zeitraum 1450-1650 gehen, wobei den Bereichen Politik, Wirtschaft, Kultur, Bevölkerungsentwicklung und militärische Auseinandersetzungen größere Aufmerksamkeit geschenkt wird. Mit diesen Themen sind auch bereits die Kapitel genannt, in die sich die Abhandlung gliedert. Das Buch ordnet sich in ein größeres Vorhaben des Verfassers ein, alle bedeutenden Staatswesen Italiens in diesem Zeitraum in ähnlicher Weise zu bearbeiten. Ein Band zu Neapel ist bereits erschienen, weitere zu Florenz, Mailand und Rom sollen folgen.
Über eine solche Kurzzusammenfassung hinaus fällt es jedoch schwer, den Inhalt des Buchs wiederzugeben, wofür es vor allem zwei Gründe gibt. Zum einen wird aufgrund der kurzen Einleitung nicht deutlich, welches Ziel das Buch überhaupt verfolgt, nach welchen Prinzipien sich die Inhalte ordnen. Zum anderen erschließt sich eine Ordnung des Stoffs bei der Lektüre nur ansatzweise, vielmehr drängt sich der Eindruck eines wenig geordneten Gemischtwarenladens auf. Reimann verfolgt offenbar das Ziel, ein Handbuch zur Geschichte Venedigs in diesen zwei Jahrhunderten zu schreiben. Dafür kommt die Abhandlung aber viel zu unsystematisch und unvollständig daher. Zur Exemplifizierung eine stichwortartige Zusammenfassung des Kapitels "Kulturelle Ebene": Humanismus, "architektonische Meisterleistungen", Malerei, wieder Humanismus, Geschichtsschreibung, Bibliotheken, das Colleoni-Reiterdenkmal, dichtende Frauen, Galileo Galilei, Opern, Musik, berühmte Maler. Das ist weder ein systematischer, noch ein vollständiger und schon gar kein stringent nachvollziehbarer Aufbau. Die Übergänge von einem Themenfetzen zum nächsten sind nicht erkennbar und die Abfolge in der Darstellung erscheint schlicht willkürlich.
Um die Verwirrung nachvollziehen zu können, die bei der Lektüre nicht selten entsteht, seien zumindest zwei Beispiele zitiert. Im Kapitel "Ökonomische Ebene" folgen auf drei Tabellen, welche die auslaufenden Schiffe von Venedig nach Ragusa und Ancona 1563-1591, die Importe aus Dalmatien nach Venedig 1586-1616 sowie die wichtigsten Verkäufer von Schiffszwieback nach Alexandrien (sic!) zum Inhalt haben, folgende Ausführungen: "Der venezianischen Flotte stand als Kommandant ein Provveditore vor. Gerade der Genuese Christoph Kolumbus (gestorben 1506) und der Florentiner Amerigo Vespucci trugen mit ihren Entdeckungen der Neuen Welt wesentlich zum Abstieg der Supermacht Venedig in die Regionalliga [sic!] bei. Die Handelswege und Reiserouten in die Neue Welt führten am Mittelmeer eher vorbei. Über die von Venedig nach Wien während des Dreißigjährigen Krieges im Reich gehandelten Waren gibt auch das Mautbuch von Judenburg in der oberen Steiermark Auskunft." (146) Ausführungen über den Handel zwischen Venedig und Wien in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts schließen sich an.
Auch chronologisch geht es mitunter drunter und drüber. In einem Abschnitt zu den venezianisch-osmanischen Beziehungen wird zunächst die Schlacht bei Lepanto 1571 und das anschließende Ausscheren Venedigs aus der Heiligen Liga behandelt, das in einen Separatfrieden Venedigs mit dem Osmanischen Reich mündete. Folgendermaßen setzt der Verfasser seine Ausführungen fort: "Die Empörung der einstigen Ligapartner gegen diesen venezianischen Separatfrieden war groß. Papst Gregor XIII. bezeichnete den Frieden vor seinen Kardinälen am 08. 04. 1573 gar als teuflisches Machwerk. Die Einführung einer Türkensteuer verärgerte Sultan Murâd durchaus und verschlechterte das türkisch - venezianische Verhältnis 1638/39 spürbar. Venedig droht erneut ein Krieg von türkischer Seite." Unmittelbar darauf folgt unter der Überschrift "Kriege: 1463-79: Türken" ein neuer Absatz zu den venezianisch-osmanischen Auseinandersetzungen am Ende des 15. Jahrhunderts.
Eine weitere Schwierigkeit, die Inhalte des Buchs konzentriert wiederzugeben, resultiert aus formalen Unzulänglichkeiten. So gehört die Kunst der gliedernden Organisation des Textes durch Unterkapitel oder Absätze wahrlich nicht zu den Stärken des Verfassers. Während beispielsweise das Kapitel "Politische Ebene" auf 44 Seiten insgesamt zehn Unterkapitel enthält, verfügt das Kapitel "Ökonomische Ebene" auf 75 Seiten über keinerlei weitere Untergliederung. Und auch innerhalb der Kapitel bietet sich dem lesenden Auge denkbar wenig Halt. Seitenweise kommt Reimann ohne einen einzigen Absatz aus (21-26, 36-39, 43-47, 64-71 usw.), obwohl zahlreiche, gänzlich unterschiedliche Themen angeschnitten werden.
Überhaupt muss man feststellen, dass die Arbeit in formaler Hinsicht nicht ausreichend ist. Es finden sich nicht wenige Rechtschreib- und Zeichensetzungsfehler, der Autor kann sich nicht recht entschließen, ob er seine Darstellung im Präsens oder in der Vergangenheitsform halten will, und auch der Anmerkungsapparat birgt einige Rätsel. Nicht nachvollziehbar ist das Vorgehen des Verfassers, sowohl mit Fußnoten am Ende der Seite als auch mit Anmerkungen am Ende des Textes zu operieren. Nahezu absurd wird es, wenn die Anmerkungen in Einzelfällen (270, 303) ihrerseits mit Fußnoten versehen werden!
Unfreiwillig komisch sind die Stilblüten, die im Text sprießen und die stellvertretend für so manche sinnentstellende und sachlich falsche Passage stehen mögen: "Die türkische Eroberung Konstantinopels war mehr als ein Donnerschlag, es war ein brandentfachender Blitzeinschlag." (44) "Die Türken waren bisher aus venezianischer Sicht nicht direkter Feind auf dem Meer, wie früher Genua. Dass sie es aber wurden, merkten die Venezianer, als sie eine Insel nach der anderen verloren." (49) Über Tintoretto weiß der Verfasser zu berichten: "Allerdings war die Malerei nun eben doch nicht sein einziges Betätigungsfeld, seine acht Kinder (1574) legen davon Zeugnis ab." (172) Über die sestieri (= Sechstel) genannten Stadtteile Venedigs heißt es: "Die einzelnen sestieri sind nochmals in Viertel aufgeteilt." (18)
Doch all die formalen Unzulänglichkeiten und unübersehbaren Schwächen in der Darstellung sind noch nicht einmal das eigentliche Problem des Buchs. Vielmehr sind es zwei Aspekte, die eine weiter gehende Rezeption nicht nur wenig ratsam erscheinen lassen, sondern nahezu unmöglich machen. Zunächst ist der Verzicht des Verfassers zu nennen, zahlreiche seiner Informationen in einen sinnvollen Zusammenhang zu stellen. Sie werden wiedergegeben, als würden sie sich von selbst verstehen oder als sei es nicht Aufgabe des Historikers, solche Angaben angemessen einzuordnen - von einer Problematisierung sei hier noch gar nicht gesprochen. Dies verdeutlichen insbesondere die zahlreichen Listen und Tabellen. Warum man beispielsweise zu Beginn einer Darstellung über Venedig, also unmittelbar auf die Einleitung folgend, seitenweise Herrschertabellen für das Heilige Römische Reich, für Frankreich, Spanien, das Osmanische Reich, den Kirchenstaat und die großen italienischen Staaten anführen muss (7-17), ist mir nicht klar. Sicherlich, mit all diesen Staaten stand Venedig in außenpolitischen Beziehungen - aber was helfen Herrschertabellen zu deren Verständnis?
Doch auch wenn es den venezianischen Kontext im engeren Sinn betrifft, wird es nicht besser. Es ist völlig sinnlos, Ämter der venezianischen Verfassung und Verwaltung einfach nur aufzulisten (27-31) und auf jede Erläuterung zu verzichten - zumal diese Auflistung aufgrund der Komplexität der venezianischen Administration niemals vollständig sein kann. Von einer dilettantischen Bleistiftzeichnung des Palazzo Barbarigo della Terrazza, die nicht den geringsten Bezug zum Inhalt des Textes hat, soll an dieser Stelle gar nicht weiter die Rede sein. Denn es sind vor allem zahlreiche Informationen im Text selbst, die nur unzureichend oder zuweilen auch gar nicht kontextualisiert werden. Auf ausführliche Beispiele muss hier aus Platzgründen verzichtet werden, daher nur ein Punkt unter vielen: Wenn Reimann anführt, die Kindersterblichkeit in Venedig habe 1619 bei 29,5 % und 1651 bei 25,5 % gelegen, und zugleich behauptet, dass über die Todesursache keine Auskunft gegeben werden könne, diese Informationen aber ohne jeglichen Bezug zur allgemein hohen Kindersterblichkeit im vormodernen Europa wiedergibt, dann wird die Leserschaft fahrlässig im Unklaren gelassen.
Das zweite grundlegende Problem macht sich am ehesten in der Orientierungslosigkeit bemerkbar, mit welcher der Leser am Ende der Lektüre zurückgelassen wird. Sie resultiert aus dem Fehlen einer leitenden These und eines erkenntnisleitenden Ziels, auf das hin der Wust an Einzelinformationen organisiert werden müsste. Man kann eine solche Perspektive des Buchs zwar erahnen, dass es nämlich im Verbund mit den anderen veröffentlichten beziehungsweise geplanten Abhandlungen um eine Art Handbuch zur Geschichte Italiens 1450-1650 gehen soll. Aber ein gelungenes Handbuch zeichnet sich nicht nur dadurch aus, dass es die Fülle des Stoffs so organisiert und präsentiert, dass sie allgemein verständlich wird, sondern dass es auch leitenden Thesen folgt. Zudem fehlen essentielle Bereiche in der Darstellung. Vor allem auf gesellschaftliche Zustände wird nur am Rande eingegangen, Fragen des Rechts und der Technik kommen kaum vor.
Die Darstellungsweise lässt sich daher mit einem Wort charakterisieren: unzusammenhängend. Man kann deshalb wahrlich nicht behaupten, den weiteren Bänden der Reihe mit Spannung entgegenzusehen.
Achim Landwehr