Heinz Duchhardt (Hg.): Stein. Die späten Jahre des preußischen Reformers 1815-1831, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007, 214 S., ISBN 978-3-525-36376-8, EUR 29,90
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Im kollektiven Gedächtnis der Deutschen ist der Freiherr vom Stein vor allem als preußischer Reformer und Organisator des europäischen Widerstands gegen die Herrschaft Napoleons präsent geblieben, wenngleich es um den einstmals als nationalen Heros Gefeierten seit geraumer Zeit merklich stiller geworden ist. Wenig beachtet und allenfalls kursorisch behandelt wurde hingegen schon immer der letzte Lebensabschnitt des Reichsfreiherrn, dem erstmals in der jüngst zum 250. Geburtstag Steins erschienenen Biographie von Heinz Duchhardt (Stein. Eine Biographie. Münster 2007) breiter Raum gewidmet wurde. Der hier vorzustellende Sammelband, der auf eine Konferenz am Institut für Europäische Geschichte in Mainz im Dezember 2006 zurückgeht und zehn Beiträge zu den Jahren 1815 bis 1831 versammelt, stellt dazu eine willkommene Ergänzung dar.
Drei Beiträge kreisen um das Themenfeld 'Stein und die Geschichte': Rudolf Schieffer (1-14) und Gerhard Schmitz (15-37) präsentieren den aktuellen Forschungsstand zum Thema Stein und die Gründung und Entwicklung der "Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde", der späteren "Monumenta Germaniae Historica", wobei sich Schieffer auf die Gründungsphase und Schmitz auf die 1820er Jahre konzentriert. Beide streichen die herausragenden Verdienste Steins um die Gründung, Organisation und vor allem auch die Finanzierung der "Monumenta" heraus. Während Steins Anteil an der Realisierung dieses 'nationalen' wissenschaftlichen Großprojekts außer Frage steht, hielt sich sein Interesse an der Gründung und Arbeit Historischer Vereine, deren Ausrichtung ja eine überwiegend einzelstaatliche, regionale oder lokale war, in sehr viel engeren Grenzen, wie Gabriele B. Clemens in ihrem Aufsatz "Stein und die Anfänge der Historischen Vereine" (39-58), der einen konzisen Überblick über die erste Gründungswelle gibt, demonstriert.
Zu der seit langem kontrovers geführten Diskussion um das Verfassungsverständnis Steins steuern Michael Hundt und Wolfram Siemann weiterführende Deutungen bei. Während Hundt in seinem Beitrag "Stein und die preußische Verfassungsfrage in den Jahren 1815 bis 1824" (59-82) das verfassungsrechtliche Denken des Freiherrn von einer "patriarchalischen, vormodernen Vorstellungswelt" (68) geprägt sieht, erkennt Siemann ("Stein und der Konstitutionalismus der süddeutschen Verfassungen", 83-97) bei Stein, der weniger an der Doktrin als an der Entwicklung des konstitutionellen Lebens interessiert gewesen sei, bis zuletzt eine flexible und "zukunftsoffene Argumentationsweise" (95). Allerdings neigt Siemann zu einer gewissen Überschätzung Steins, wenn er behauptet, dieser habe "massiv in die Entwicklung der süddeutschen Verfassungen eingegriffen" (87) - eine allzu pauschale Position, die von der einschlägigen Spezialforschung (etwa zu Nassau, Frankfurt, Württemberg) nicht gedeckt wird.
Der spannungsreichen Beziehungsgeschichte Steins und Hardenbergs, deren Lebenswege sich mehrfach kreuzten, geht Thomas Stamm-Kuhlmann ("Stein und Hardenberg. Reformer auf getrennten Wegen", 99-121) nach und konstatiert dabei eine wachsende Entfremdung zwischen den beiden Staatsmännern: Das zu Beginn der preußischen Reformzeit noch von gemeinsamen politischen Überzeugungen und persönlichem Vertrauen geprägte Verhältnis beider Protagonisten sei bereits ein Jahrzehnt später zerrüttet gewesen und zuletzt auf Seiten Steins, der Hardenbergs Charakter, Lebenswandel und Amtsführung äußerst negativ beurteilt habe und persönlichen Begegnungen aus dem Weg gegangen sei, sogar in "blanken Hass" (118) umgeschlagen.
Peter Burg untersucht in seinem Beitrag "Die Reform der Reform" (123-146) den Anteil Steins an der Revision 'seiner' Städteordnung von 1808 und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass Steins Zustimmung zu einer sukzessiven Einschränkung der bürgerlichen Selbstverwaltung "von oben", wie sie die revidierte Städteordnung von 1831 schließlich festschrieb, auf eine zunehmend pessimistischere Sicht der gesellschaftlichen Entwicklung zurückzuführen sei, wodurch Steins "Zutrauen in die Einsicht der Bürger [...] entscheidend schwächer [geworden sei] als das Zutrauen in das Urteilsvermögen der Vertreter der Staatsmacht" (138).
Dieser Alterspessimismus erhielt nicht zuletzt neue Nahrung durch die revolutionären Ereignisse Anfang der 1830er Jahre, deren Rezeption durch Stein Julia A. Schmidt-Funke ("Stein und die Julirevolution von 1830", 146-168) analysiert. Anhand einer statistischen Auswertung der Briefkorrespondenz Steins vom August 1830 bis Juni 1831, deren Ergebnisse leider in wenig übersichtlichen Diagrammen präsentiert werden, kann sie die "Ambivalenz seines politischen Denkens" aufzeigen: Stein habe einerseits, "impulsiv" und kategorisch, die Vorgänge in Frankreich und Belgien, die alte Ängste in ihm weckten und ihn in seiner frankophoben Haltung bestärkten, abgelehnt, sich andererseits aber, durchaus nüchtern abwägend, eine Entspannung der Situation eher von "präventiven Reform[en]" als von einer Repressionspolitik à la Metternich erhofft (165).
Die beiden letzten Beiträge beschäftigen sich dann mit der Sorge Steins um das eigene Bild in der Öffentlichkeit und Nachwelt: Zunächst verdeutlicht Gerd Dethlefs ("Die Porträts des Freiherrn vom Stein",169-196), dass die eigenen Bildnisse für Stein "keine Propagandaträger" gewesen seien (184), sondern vornehmlich der Pflege und Befestigung persönlicher Beziehungen zu Verwandten und Freunden gedient hätten. Erst nachdem seine Porträts durch Vervielfältigung in die Öffentlichkeit gelangt seien, hätten diese die Rezeption Steins durch die Zeitgenossen und die Nachlebenden beeinflussen können. Abschließend untersucht Heinz Duchhardt ("Steins letzte Reise", 197-207) die präzise Planung und Inszenierung des eigenen Begräbnisses. Indem Stein möglichst schlichte Trauerfeierlichkeiten und einen mehrtägigen, von Freunden und lokalen Honoratioren begleiteten Trauerzug von Cappenberg durch Westfalen und entlang des linken Rheinufers bis zur Familiengruft in Frücht bei Nassau anordnete, habe er durch die äußere Form des Trauerzugs, das soziale Profil des Geleits und die Route der Sarglafette sich als ein nicht nach äußerem Glanz strebender Machtmensch, sondern als ein dem "'normale[n]' Bürger" verbundener prinzipientreuer Patriot und Mitbefreier des Vaterlandes im öffentlichen Gedächtnis verankern wollen (206).
Insgesamt bietet der Sammelband neue und interessante Einblicke in die letzte Lebensphase Steins. Dieser zog sich nach dem Ausscheiden aus besoldeten Ämtern keineswegs verbittert und enttäuscht auf sein Altenteil zurück, sondern wandte sich engagiert neuen Aufgaben (u. a. Gründung und Organisation der MGH, politisches Engagement in Westfalen) zu und blieb bis zu seinem Ableben ein aufmerksamer Beobachter und kritischer Kommentator des Zeitgeschehens in Deutschland und Europa. Derart eingebunden in ein weit gespanntes politisch-gesellschaftliches Netzwerk aus bürgerlichen Honoratioren, Beamten und Adeligen konnte sich Stein auch jenseits der großen Politik einen gewissen Einfluss bewahren. Seine schillernde Persönlichkeit und die Ambivalenz seines politisch-gesellschaftlichen Denkens und Handelns erfordern freilich eine stärkere Kontextualisierung seiner Äußerungen, um sowohl die Positionen als auch den Einfluss Steins präziser, als das hier vielfach geschehen ist, bestimmen zu können. Der Tagungsband bietet hierzu zahlreiche Anknüpfungspunkte.
Eckhardt Treichel