Rafis Abazov (ed.): Historical Dictionary of Kyrgyzstan (= Asian/Oceanian Historical Dictionaries; Nr. 49), Lanham, MD: Scarecrow Press 2004, XXXIV + 379 S., ISBN 978-0-8108-4868-9, EUR 63,00
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Zentralasien war im Westen lange Zeit eine terra incognita. Inzwischen kann man sich aber über die dortige aktuelle Lage leicht informieren. Auch einzelne historische Phänomene, Orte oder Persönlichkeiten der Region sind heute einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, hier mögen die Stichworte Seidenstraße, Samarkand oder Avicenna genügen. Doch die Kirgisen, die ab und an in unseren Nachrichten auftauchen und außerdem ein Lieblingsforschungsgegenstand der Ethnologie geworden sind, scheinen keine Geschichte zu haben. Jedenfalls keine im Westen bekannte. Mit umso größeren Erwartungen greift der Leser also zu einem Lexikon ihrer Geschichte. Und wird enttäuscht - um das Ergebnis gleich vorweg zu nehmen.
Der vorliegende Band folgt dem Konzept aller Bände der "Asian/Oceanian Historical Dictionaries". Er enthält zwei (aus dem Internet heruntergeladene) Karten des heutigen Zentralasien und Kirgistans, die allerdings so klein sind, dass sie allenfalls eine Vorstellung von der geopolitischen Lage des Landes vermitteln können. Dem folgt eine von der Bronzezeit bis in den Sommer 2003 reichende Chronologie und eine knapp 50 Seiten lange Einleitung, die einen landeskundlichen Gesamtüberblick geben will. Der eigentliche lexikalische Teil umfasst ca. 350 Stichworte: Personen, geografische Begriffe, Institutionen, Ereignisse, Begriffe aus der kirgisischen Ethnologie und Tiere. Im Anhang findet sich eine englische Übersetzung der kirgisischen Verfassung mit den Änderungen von 2003, sowie eine Vielzahl von Tabellen, überwiegend Wirtschaftsdaten des unabhängigen Kirgistan und eine Liste der Führungspersonen der Sowjetzeit. Eine fast 30-seitige Auswahlbibliographie mit vorwiegend englisch- und russischsprachigen, ganz vereinzelt auch kirgisischen Titeln bildet den Abschluss.
Schon beim aller ersten Durchblättern fällt auf, dass die Chronologie rein optisch sehr unübersichtlich, u.a. weil sie mit Informationen überladen, ist. Unübersichtlich ist sie aber auch durch inhaltliche Unachtsamkeiten des Verfassers. Beispielsweise taucht die kirgisische Volksvertretung der Jahre 1989/1990 mal als Parlament, mal unter der kirgisischen Bezeichnung Jogorku Kenesh, aber auch in der sowjetischen Nomenklatur als Oberster Sowjet auf (XXVIII f.), manche genau zu datierenden Ereignisse sind nur unter mit einer Monatsangabe versehen, andere mit genauem Datum, ein Ereignis wie beispielsweise die Parlamentswahl vom Februar 1990 hat der Verfasser vergessen.
Der Eindruck einer fehlenden Systematik und vermutlich eines fehlenden letzten Überarbeitungsschrittes verstärkt sich beim Lesen der umfangreichen Einführung wie auch des Lexikonteils. Die Einführung enthält einerseits vermeidbare Wiederholungen, andererseits finden sich Angaben unter Überschriften, unter denen der Leser sie nicht vermutet, dafür erscheinen sie nicht unter den naheliegenden. Beispielsweise tauchen Zahlengaben zu den kirgisischen Goldvorkommen, deren Ausbeutung heute eine wichtige Grundlage des wirtschaftlichen Überlebens des Staates ist, unter der Überschrift "Land and People" auf (4), unter "Economy" wird nur mit einem Satz erwähnt, dass die Goldvorkommen von großer Bedeutung seien (6). Inhaltlich ist auf eine z.T. völlig unkritische Wiedergabe von Sowjetliteratur zu verweisen, so, wenn Abazov schreibt, dass mit der russischen Herrschaft auch die Herrschaft des Kapitalismus bei den Kirgisen begann (12,17). Das Thema Religion wird nur ganz beiläufig erwähnt. Insgesamt nimmt die Darstellung der Verhältnisse im heutigen Kirgistan mehr Raum ein als die Geschichte.
Der Lexikonteil zeigt die gleichen Merkmale. Es gibt viele Wiederholungen, die natürlich einem Nachschlagewerk immanent sind, aber auch auf einer ungeschickten Stichwortvergabe und einem Drang zu möglichst großer Vollständigkeit im Detail beruhen. So ist zu fragen, ob wirklich so viele höhere Bildungseinrichtungen von Bishkek ein eigenes Stichwort verdienen, desgleichen werden fast 20 politische Parteien des unabhängigen Kirgistan einzeln aufgeführt, was erstens nicht ihrer tatsächlichen Bedeutung entspricht und zweitens besonders schnell veraltet. Außerdem ist auch hier das Material in einigen Fällen ungeschickt auf die Stichworte verteilt, spezielle Angaben finden sich unter einem allgemeinen Oberbegriff, die dazu gehörenden allgemeinen unter einem spezifischen Einzelbegriff.
Nationalitätenfragen fallen weitgehend aus dem Fokus des Verfassers. Es gibt weder ein übergeordnetes Stichwort "Nationalitäten" oder "Nationalitätenpolitik" noch werden die wichtigsten nichtkirgisischen Nationalitäten einzeln vorgestellt. Immerhin leben nach offiziellen Angaben im heutigen Kirgistan mehr als 100 Nationalitäten und die Usbeken machen allein 14% der Bevölkerung aus, im Fergana-Teil ist ihr Anteil erheblich höher. Zwar werden in den Stichworten zu den einzelnen Verwaltungseinheiten des Landes Prozentzahlen zu ihrer ethnischen Zusammensetzung genannt, ohne Darstellung ihrer Herkunft, Kultur und heutigen Interessen bleiben die nichtkirgisischen Ethnien aber völlig abstrakt.
Die Kirgisen stehen natürlich im Mittelpunkt des Gesamtvorhabens, wenn man aber zwischen dem staatlich kirgisistanischen und dem ethnografisch kirgisischen unterscheidet, sind auch sie erstaunlich wenig präsent. Natürlich gibt es die Stichworte "Kyrgyzs" und "Kyrgyz language", aber die Stichworte zu kirgisischen (und gesamtzentralasiatischen) Institutionen und Realien (Traditionen und Bräuche sind fast nicht vertreten) sind rar und die auffällig kürzesten von allen Einträgen. In mehreren Fällen handelt es sich nur um die Übersetzung des kirgisischen Begriffs ins Englische.
Noch stärker als im Einführungsteil liegt im Lexikonteil der Schwerpunkt in der Zeit nach 1991. Die vorsowjetische Zeit ist absolut unterrepräsentiert, selbst die sowjetische scheint im Vergleich zum unabhängigen Kirgistan schwach vertreten. Das betrifft nicht nur die Stichwortvergabe, sondern auch innerhalb vieler zeitlich umfassender Artikel nimmt die Jetztzeit den größten Raum ein. Es werden über 50 heute aktive Politiker vorgestellt. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass einige von ihnen ihre Karriere in der Sowjetzeit begannen, ist die aktuelle Riege gegenüber den wenigen genannten Politikern der Sowjetzeit und zehn Namen der gesamten vorsowjetischen Zeit, stark überrepräsentiert.
Natürlich könnte man vermuten, dass die aktuelle Schwerpunktsetzung vom Herausgeber der Reihe gewollt ist. Ein Vergleich beispielsweise mit dem Armenien-Lexikon der gleichen Reihe zeigt aber, dass es im vorgegebenen Rahmen durchaus möglich war, ein schwerpunktmäßig historisches Nachschlagewerk zu verfassen, dies nur im vorliegenden Fall nicht geschehen ist.
Das "Historical Dictionary of Kyrgyzstan" kann trotz vieler Mängel für denjenigen, der sich mit dem heutigen Kirgistan bekannt machen will, als erster Einstieg von großem Nutzen sein. Es handelt es sich aber nicht um ein historisches Nachschlagewerk, wie der Titel suggeriert, sondern um den ersten Versuch einer westsprachigen Kirgistan-Enzyklopädie, mit eindeutig aktuellem Schwerpunkt und einigen historischen Rückbezügen.
Beate Eschment