Andreas Fickers: "Politique de la grandeur" versus "Made in Germany". Politische Kulturgeschichte der Technik am Beispiel der PAL-SECAM-Kontroverse (= Pariser Historische Studien; Bd. 78), München: Oldenbourg 2007, 436 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-486-58178-2, EUR 49,80
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Medien sind ein eher junges Arbeitsfeld der Geschichtswissenschaft. Das Interesse hat allerdings in den letzten Jahren spürbar zugenommen, auch in Deutschland und Frankreich. In beiden Ländern erfolgte jedoch der historiografische "Medienboom" fast ausschließlich unter jeweils nationalhistorischen Prämissen [1], manchmal auch in Form breit angelegter Handbuchdarstellungen zu westeuropäisch-internationalen Medientrends. [2] Konkrete deutsch-französische Vergleichs- bzw. Transfergeschichten sind dagegen weiterhin Mangelware und lassen sich an einer Hand abzählen. [3] Ein Blick in die entsprechenden Bände ernüchtert zusätzlich. Zahlreiche Beiträge beschränken sich faktisch auf die nationale Ebene und bürden sämtliche vergleichs- und transferhistorischen Lasten dem Leser auf. Dass solche bi-, tri- oder multinationalen Untersuchungsansätze auch für den Medienbereich höchst erkenntnisträchtig sind, steht außer Frage. Immer wieder weisen Tagungsberichte und Buchrezensionen zu Recht auf potenzielle Erträge hin. [4] Aber auch darauf, dass nach wie vor die Empirie den anschwellenden methodischen Vorüberlegungen und Debatten über eine Internationale Geschichte, über Transnationales und Globales, über Vergleichs-, Transfer- und Verflechtungsgeschichte hinterherhinkt. [5]
Die vorliegende Studie von Andreas Fickers allein kann diesem grundsätzlichen Manko kaum abhelfen, doch leisten die durchweg methodenbewussten und quellengesättigten Ausführungen einen wegweisenden Beitrag dazu. Allemal einen Meilenstein bildet das Buch für die deutsch-französische Fernseh- und Mediengeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg. Hervorgegangen aus einer Dissertation an der RWTH Aachen, besticht die Untersuchung durch ein anspruchsvolles mehrdimensionales und interdisziplinäres Vorgehen, das sich dem vielzitierten "pot-au-feu-Theoretisieren" von Clifford Geertz (43) verpflichtet weiß. Ansätze der Technik-, Wirtschafts-, Politik- und Diplomatiegeschichte werden eng miteinander verwoben, vorgefundene Interpretationen verschiedener Fachwissenschaften für den eigenen Gegenstand nutzbar gemacht. Beeindrucken kann auch die Materialgrundlage. Souverän ausgewertet hat Andreas Fickers die einschlägigen Bestände in deutschen, französischen und britischen Archiven, darunter Unternehmens- und vor allem Rundfunkarchive, sowie einige Nachlässe, die sich noch in Privatbesitz befinden. Daneben sind ein Dutzend Gespräche mit damaligen Akteuren in die Studie eingeflossen, auf französischer Seite u.a. mit Jean-Jacques de Bresson, der rechten Hand des Informationsministers und de Gaulle-Vertrauten Alain Peyrefitte, auf deutscher Seite u.a. mit Karl-Günther von Hase, der wichtigsten politischen Figur in der "PAL-SECAM-Kontroverse".
Die TV-Auseinandersetzung fiel in eine Zeit, in der sich das Fernsehen in Westeuropa endgültig als das Leitmedium einer medialen Öffentlichkeit etablierte. Der Streit entbrannte in den frühen 1960er Jahren und gipfelte 1965/66 in einer beispiellosen internationalen Politisierung der "Farbfernsehfrage". Im Kern ging es um das Festlegen eines einheitlichen fernsehtechnologischen Standards in Europa. Grundlage der Projekte in der "Alten Welt" war die 1953 in den Vereinigten Staaten entwickelte NTSC-Norm, die es auf die hiesigen Verhältnisse im Fernsehrundfunk zu übertragen und zu optimieren galt (138). Als gangbare Optionen kristallisierten sich bald das französische SECAM- und das bundesdeutsche PAL-System heraus. Deren allenthalben geschürte Konkurrenz zueinander sollte freilich am Ende die Harmonisierungsbemühungen und damit einen gemeinsamen europäischen Standard für Farbfernsehgeräte zum Scheitern bringen.
Dabei mangelte es weder den Technikexperten noch den Rundfunkanstalten an einem Einigungsinteresse. Noch dazu waren die beiden Systeme technisch gleichwertig, nur geübte Betrachter vermochten beim Testbildvergleich "feine Unterschiede" zu erkennen. Es liegt auf der Hand, dass sich der Fehlschlag, einen "Europastandard" zu definieren, weniger technisch-technologisch als vielmehr industriell-wirtschaftlich sowie national-politisch erklären lässt. Für alle drei Ebenen - Technik, Industrie, Politik - schildert Andreas Fickers prägnant die historischen Parameter der Fernsehentwicklung in Deutschland und Frankreich, erörtert die wechselseitigen Konfliktpotenziale, verortet die Kontroverse in den spezifischen politisch-kulturellen Rahmenbedingungen beider Länder in den frühen 1960er Jahren und analysiert die ausschlaggebenden Gründe für das letztendliche Scheitern.
Schon das Technikkapitel bietet - neben begrenzt zielführenden Details über das Lochricht-Rasterverfahren oder das Problem der Zeilennormen - gewichtige Aufschlüsse. Zwar gab es - realhistorisch - kein "bestes System", wohl aber zwei federführende, für die westdeutsche wie französische Nachkriegsgeschichte fast "prototypische" Systementwickler: zum einen Walter Bruch, ausgebildeter Ingenieur und Entwicklungsprofi des Großunternehmens Telefunken, zum anderen Henri de France, dem eher das Bild eines Elektronikbastlers und klassischen Erfinders anhaftete. Beide galten - wie Andreas Fickers stichhaltig herausarbeitet - als nationale "Helden der Technik", beide standen für wiederbelebtes technologisches Selbstbewusstsein, beide symbolisierten die respektiven Modernisierungsprozesse und -strategien (376): PAL / Bruch verschmolzen ebenso mit dem bundesdeutschen "Wirtschaftswunder" wie SECAM / de France mit den "trente glorieuses", den so genannten "dreißig glorreichen Wachstumsjahren" in Frankreich.
Die folgenden Kapitel zu "Industrie" und "Politik" knüpfen daran an. Immer wieder stehen Aspekte symbolischer Politik, nationaler Wirtschaftsstile, außenpolitischer Strategien, industriepolitischer Interessen und massenmedialer Instrumentalisierung in engen, für den bundesdeutschen und französischen Fall aber jeweils ganz unterschiedlich akzentuierten Bedingungszusammenhängen. Deutlich wird, dass - anders als im Bereich der "Technik" - in "Industrie" und "Politik" von einem ernsthaften Willen zur Harmonisierung der Farbfernsehnorm in Europa keine Rede sein konnte. Schon die Ebenbürtigkeit von PAL und SECAM beförderte eine Entscheidungsverlagerung von der technischen auf die industrielle und politische Ebene. Vor allem aber war die verschiedenartige Strukturierung des "televisuellen Feldes" in der Bundesrepublik und in Frankreich verantwortlich für kulturelle Missverständnisse, politische Kontroversen und fehlende Kompromissbereitschaft.
Das Fernsehen besaß Mitte der 1960er Jahre für die französische Innen- und Außenpolitik eine deutlich höhere Relevanz. Nicht nur war de Gaulle dank seiner "Rundfunk-Résistance" im Zweiten Weltkrieg massenmedial "vorsozialisiert". Mehr noch war der Staatspräsident zutiefst überzeugt von der suggestiven Kraft des Bildes vor heimischen TV-Geräten wie von der grundsätzlichen Benennungs- und Bedeutungsmacht des neuen Leitmediums (234). Der Zugriff auf Rundfunk und Fernsehen war direkt und verstand sich von selbst: galt es doch der in seinen Augen mehrheitlich anti-gaullistischen Presse eine attraktive Alternative entgegenzustellen, die regierungsamtliche Positionen verbreiten und öffentliche Meinungsströme beeinflussen konnte. Während der westdeutsche Föderalismus, unabhängige Landesrundfunkanstalten und das Bundesverfassungsgericht 1961 dem angedachten "Adenauer-Fernsehen" einen Riegel vorschoben, bewegte sich Frankreich weiterhin in den ausgetretenen Pfaden zentralstaatlicher Vereinnahmung audio-visueller Medien.
Damit blieben TV-Debatten dort viel unmittelbarer Politik-Debatten, und die maßgeblichen Akteure der "PAL-SECAM-Kontroverse" kamen nicht - wie in der Bundesrepublik - aus der Industrie, sondern aus der "Großen Politik". Der westdeutschen Entscheidung zugunsten von PAL lagen rein wirtschaftsstrategische Erwägungen zugrunde, der Rundfunkindustrie ging es um anvisierte Lizenzgebühren und mögliche Exportchancen. Nur durch geschicktes internationales Taktieren und Netzwerken, auch durch ständiges Bemühen des renommierten "Made in Germany" war PAL überhaupt konkurrenzfähig gegenüber einem massiv staatlich subventionierten SECAM-Konkurrenten. Fernsehen in Frankreich blieb Chefsache: bis hin zum Informationsminister und zum Staatspräsidenten persönlich (239f., 257, 295).
Dies galt erst recht für die diplomatischen Triebfedern de Gaullescher Politisierung der Farbfernsehfrage. Dabei versuchte Paris zunächst, den neuen deutsch-französischen Elan im Umfeld des Elysée-Vertrages von Januar 1963 zu nutzen, um Polit-Akteure in Bonn zu mobilisieren, die der Rundfunkindustrie im Land das SECAM-System schmackhaft machen sollten. Als sich aber wenige Monate später das bilaterale Verhältnis mit der "atlantischen Präambel" zum Elysée-Vertrag und dem Kanzlerwechsel von Adenauer zu Erhard merklich abkühlte, orientierte sich de Gaulle um (248ff.). Nun avancierte der Farbfernsehstandard endgültig zum nationalen Prestigeobjekt und symbolischen Kampffeld, auf dem sich französische Modernisierungskraft und Unabhängigkeit gegenüber den Vereinigten Staaten sowie die Nichtakzeptanz der etablierten Ost-West-Blöcke nachweisen ließ, auch im televisuellen Schulterschluss mit Moskau. Der Farbfernsehvertrag mit der Sowjetunion, im März 1965 in Paris unterzeichnet, war das sichtbarste Ergebnis dieser Politik.
Dahinter steckte ein überaus ambitioniertes, letzten Endes aber kaum realistisches Ziel französischer "Eurovisionen": die SECAM-Norm über die Sowjetunion im gesamten Ostblock zu platzieren, dann über die DDR die Bundesrepublik in das eigene Lager hinüberzuziehen, schließlich das restliche Westeuropa (346). Begründet worden wäre damit ein einheitlicher europäischer, sprich: französischer Farbfernsehstandard in Abgrenzung zum amerikanischen NTSC-System. Faktisch aber entwickelten sich die Dinge ganz anders. Denn de Gaulles "Moskau-Vorstoß" - wenige Tage bevor europäische TV-Experten in Wien über Chancen für eine gemeinsame Norm befinden sollten - brüskierte selbst die westeuropäischen Partnerländer, die der SECAM-Technik durchaus aufgeschlossen gegenüberstanden. Nicht das französische SECAM, sondern das deutsche PAL sah sich im Aufwind, und als sich im Folgejahr eine entschlossene PAL-Koalition aus Großbritannien, den Niederlanden und der Bundesrepublik abzuzeichnen begann, war es um einen Einheitsstandard endgültig geschehen.
Dem Buch sind viele Leser zu wünschen. Es bietet hohen Neuigkeitswert im Detail, aber auch viele prinzipielle Einsichten über den historiografisch weiterhin unterschätzten politischen Stellenwert populärkultureller Produkte und Ausdrucksformen. Klar strukturiert, plausibel argumentiert, durchweg das Wesentliche im Blick, geht der rote Faden und die deutsch-französische Vergleichsprämisse zu keinem Zeitpunkt verloren. Etwas unausgegoren wirkt lediglich das ausführliche Schlusskapitel, das - klassisch - die Gründe für das Scheitern eines europäischen Farbfernsehkompromisses noch einmal systematisiert, das dann aber - überraschend - "ergänzende Interpretationsangebote" bzw. Theoriedebatten bietet, die an anderer Stelle besser aufgehoben gewesen wären, und neuerlich "Thesen" präsentiert, die kaum mehr weiterführend sind.
Alles in allem hat Andreas Fickers seinen Anspruch, eine "politische Kulturgeschichte der Technik" (376) vorzulegen, eindrucksvoll erfüllt. Im Grunde bietet die Studie aber noch mehr. Ausgehend von technik-, industrie- und wirtschaftshistorischen Überlegungen liefert das Buch am Ende maßgebliche Bausteine für eine breiter angelegte deutsch-französische Zeitgeschichte, die weit über sektorale Aspekte hinausreicht. Bausteine zum einen für eine vergleichende Geschichte politischer Kultur(en) im Frankreich und Westdeutschland der 1960er Jahre. Zum anderen für eine Kulturgeschichte deutsch-französischer Beziehungen in der Nachkriegszeit, geht es doch bei der "PAL-SECAM-Kontroverse" nicht zuletzt um das Aushandeln eines bilateralen Konflikts durch zivilgesellschaftliche wie politische Akteure im Rahmen der damaligen internationalen Ordnung.
Anmerkungen:
[1] Zuletzt für Frankreich: Evelyne Cohen / Marie-Françoise Lévy (eds.): La télévision des Trente Glorieuses. Culture et politique, Paris 2007; für die Bundesrepublik demnächst Knut Hickethier (Hg.): Medien in der 50er Jahren, Marburg 2008.
[2] Vgl. Frédéric Barbier / Catherine Bertho-Lavenir: Histoire des médias de Diderot à l'Internet, Paris 1996; Patrice Flichy: Tele. Geschichte der modernen Kommunikation, Frankfurt / New York 1994; Jean-Noël Jeanneney: Une histoire des médias des origines à nos jours, Paris 1996; Peppino Ortoleva: La société des médias, Florenz 1995; Werner Faulstich: Mediengeschichte von den Anfängen bis ins 3. Jahrtausend, 2 Bände, Göttingen 2006. Daneben mit vielfältigen medienhistorischen Aspekten Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, 4. Auflage, Frankfurt 2007.
[3] Als jüngere mediengeschichtliche Titel mit explizit deutsch-französischem Anspruch vgl. Pierre Albert / Ursula Koch / Rémy Rieffel / Detlef Schröter / Philippe Viallon (Hgg.): Die Medien und ihr Publikum in Deutschland und Frankreich, Paris 2003; Ernst-Ulrich Grosse / Ernst Seibold: Presse française, presse allemande. Etudes comparatives, Paris 2003; Clemens Zimmermann / Manfred Schmeling (Hgg.): Die Zeitschrift - Medium der Moderne. Deutschland und Frankreich im Vergleich (= Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes, 6), Bielefeld 2006.
[4] Vgl. z.B. Inge Marszolek: Tagungsbericht: Von der Politisierung der Medien zur Medialisierung des Politischen? Zum Verhältnis von Medien und Politik im 20. Jahrhundert. 18.01.2007-20.01.2007, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 01.03.2007. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1497
[5] Vgl. z.B. Hartmut Kaelble: Die Debatte über Vergleich und Transfer und was jetzt?, in: H-Soz-u-Kult, 08.02.2005. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/id=574&type=diskussionen
Dietmar Hüser