Rezension über:

Stefanie Middendorf: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880 - 1980 (= Moderne Zeit. Neue Forschungen zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Bd. XIX), Göttingen: Wallstein 2009, 507 S., ISBN 978-3-8353-0542-7, EUR 46,00
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Rezension von:
Dietmar Hüser
Kassel
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Dietmar Hüser: Rezension von: Stefanie Middendorf: Massenkultur. Zur Wahrnehmung gesellschaftlicher Modernität in Frankreich 1880 - 1980, Göttingen: Wallstein 2009, in: sehepunkte 10 (2010), Nr. 11 [15.11.2010], URL: https://www.sehepunkte.de
/2010/11/17343.html


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Stefanie Middendorf: Massenkultur

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Das Buch von Stefanie Middendorf entfaltet ein breites Panorama an Wahrnehmungs- und Deutungsmustern massenkultureller Phänomene im Frankreich des 20. Jahrhunderts und zeigt die unterschiedlichen Handlungsstrategien auf, die gesellschaftliche und staatliche Akteure als Reaktion darauf entwickelten. Die verfolgten Ziele sind höchst anspruchsvoll, richtet sich doch das Erkenntnisinteresse "nicht in erster Linie auf den Fall Frankreich, sondern auf eine mögliche Repräsentativität französischer Erfahrungen und Wahrnehmungen für die Geschichte europäischer Modernität" (32). Als Materialgrundlage dienen unveröffentlichte Materialien v.a. aus den Archives Nationales in Paris bzw. Fontainebleau, die ein breites Auswerten grauer Literatur erlaubt haben. Daneben werden Zeitschriften gesellschaftlicher (Kirche, Sittlichkeitsvereine, Volksbildungsbewegung, Familienverbände) und staatsnaher Akteure (z. B. die Ligue de l'enseignement) ausgewertet sowie zeitgenössische Publikationen, die sich seit Ende des 19. Jahrhunderts mit Massen und Massenkultur auseinandergesetzt haben.

Ausgangspunkt der Studie sind um 1900 vermehrt beobachtete, zunehmend erfahrungsgestützte und krisenhaft aufgeladene Darstellungen der Massen um die Jahrhundertwende in Presse, Kino, Roman, Comic etc. Von dort aus spannt Middendorf den Bogen über die Zwischenkriegszeit bis in die 1960er Jahre mit Ausblicken darüber hinaus. Um das gewaltige wahrnehmungshistorische Forschungsfeld zu konturieren, konzentriert sich die Studie auf drei Akteursgruppen und (Re-)Aktionsformen: einmal auf Wissenschaftler und Intellektuelle, dann auf den Staat, staatsorientiert Handelnde und staatliche Kulturpolitik, schließlich auf gegenkulturelle Entwürfe v.a. katholischer und kommunistischer Provenienz. Diese doppelte Dreiteilung - drei Kernzeiträume mit Eckdaten um 1900, 1930 und 1960, drei Akteursfelder öffentlicher "Aufklärer", staatlich Handelnder und gegenkultureller "Aneigner" - bestimmen weitgehend die Struktur der Darstellung. Das mag argumentativ schlüssig sein, wirkt dennoch etwas schematisch und erstaunt den Leser spätestens dort, wo es sich wegen phasenverschobener Entwicklungstrends auf den Akteursebenen nicht mehr durchhalten lässt.

Beim Wandel in den Wahrnehmungen arbeitet Middendorf drei prinzipiell unterscheidbare Ordnungskonzepte heraus, die einander sattelzeitartig abgelöst hätten. Für die erste Phase konstatiert sie eine dominant moralpädagogische Deutung der emporkommenden Massen als "foules". Radikale gegenkulturelle Vorhaben blieben noch ohne Raum, fanden erst in der zweiten Phase, den Zwischenkriegsjahren, reichlich Nährboden und mündeten in Massenkultur-Wahrnehmungen mit nationalistischen, auch protektionistischen Speerspitzen (323). Das dominant politisch-ökonomische Verständnis ersetzte das moralpädagogische, die "masses" lösten die "foules" als Zentralbegriff ab. Um 1960, in der dritten Phase, setzte sich eine kulturelle Deutung der Massen durch. Die "culture de masse" etablierte sich überhaupt erst als Begriff und meinte etwas qualitativ Neues (327 f.). War es zunächst das Konzept der "démocratisation culturelle", das als Leitlinie staatlicher Kulturpolitik in der Ära Malraux diente (380, 385), so weichte ein immer weiter gefasster Kulturbegriff bald die Trennung von Hoch- und Massenkultur auf. Die Neubewertung beider Sphären führte in den 1980er Jahren der Ära Mitterrand/Lang zu einer "Politik der kulturellen Relativierung" (411), zu einem "kulturpolitischen Relativismus" (412).

Aus dem Wandel dominanter Ordnungskonzepte zieht das Buch weiterreichende Schlussfolgerungen. Vorgeschlagen wird ein "Modell der Moderne", einer Moderne mit inhärenter "Ambivalenz von Individualität und Kollektivität", die in den drei Phasen verschiedene Handlungsansätze "zwischen den Polen von Liberalismus und Ordnungsdenken" generiert hat (429). Das Motiv des Ambivalenten durchzieht die gesamte Argumentation. Stets wird die Dialektik von Hoffen und Bangen betont: Bangen wegen einer als bedrohlich empfundenen massenkulturellen Eigendynamik, Hoffen auf Einhegen und Vereinnahmen entsprechender Ausdrucksformen. Das Buch will keine "Konflikt- oder Streitgeschichte" (23), keine "Geschichte des Scheiterns" (426) wertkonservativer oder antimodernistischer Gegner erzählen, eher den Blick schärfen für die durchweg wenig eindeutigen, eben ambivalenten Reaktionen.

Die Studie stellt eine bedeutende Forschungsleistung dar und bildet eine Fundgrube für jeden, der sich mit französischer Massenkultur auseinandersetzt. Kaum zu glauben, dass es sich um die "deutlich gekürzte Fassung" der Freiburger Dissertation handelt! Bei aller Souveränität bleiben einige Punkte diskussionswürdig. Überzogen wirkt die Aussage, bisherige Arbeiten über massenkulturelle Erscheinungen hätten wahrnehmungshistorische Dimensionen gänzlich ausgespart. Dies gilt weder für einschlägige Handbücher [1], noch für jüngere Fallstudien, denen es selten grundsätzlich an solchen Blickwinkeln mangelt.[2] Dass Massen und Massenkultur als solche in der Studie kaum vorkommen, darf angesichts des Perzeptionsfokus niemanden verwundern. Es überrascht dennoch, dass der ein oder andere einschlägige Titel aus jüngster Zeit unberücksichtigt blieb, zu Genres wie Jazz[3], Musik[4], Film[5] und Fernsehen[6] oder auch zum Zusammenhang von Jugend- und Populärkultur.[7]

Problematisch erscheint der Ausblick in die 1980er Jahre (403 ff.). Schon begrifflich, was die erwähnte "Politik der kulturellen Relativierung" oder den "kulturpolitischen Relativismus" angeht. Im Übrigen passt der Ausdruck "démocratisation culturelle", den die Autorin schön für die Malraux-Jahre im Kulturministerium in Anspruch nimmt, besser auf den Politikansatz von Jack Lang. Ihm ging es nicht mehr um eine Demokratisierung der Kultur, eher um eine Demokratisierung durch Kultur, die darauf zielte, kulturelle Praktiken von Menschen aller sozialen Schichten und ethnischen Ursprünge ernst zu nehmen und zu fördern.[8] Auch war die damalige US-Kritik im offiziellen Diskurs französischer Akteure weniger ein Wiederanknüpfen an Deutungen der Zwischenkriegszeit (413, 422), sondern durchgängig nach 1945 präsent.[9]

Etwas künstlich wirkt die Rückbindung des Themas an manche aktuelle Forschungsdebatte. So richten sich Thesen bisweilen gegen Positionen, die niemand derart undifferenziert bezogen hat. Dies gilt für das Modell der "blockierten Gesellschaft" aus den 1960er Jahren oder für die "vingt décisives " zwischen 1965 und 1985.[10] Selbst die Aussage, auch in Frankreich sei der "Aufstieg einer unterhaltenden, kommerziellen, massenhaften Kultur seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ... keineswegs als unproblematisch betrachtet" worden (30), entkräftet die These einer insgesamt geringeren Modernisierungsfeindlichkeit verglichen mit Deutschland nur bedingt. Des Versuchs, dem Buch auch noch einen europäischen Anstrich zu geben, hätte es im Übrigen nicht bedurft. Es ist und bleibt ein Buch über Frankreich. So kritisch es prinzipiell den Meistererzählungen französischer Geschichte zu begegnen gilt (32), in Argumentation und Interpretation von Leitdiskursen, Handlungsoptionen und Gegenentwürfen kommt letztlich auch Middendorf nicht umhin, nationale politische Traditionen, verinnerlichte republikanische Werte und Normen, spezifische geschichtspolitische Ansinnen u. ä. zu bemühen.[11] Sehr schön lässt sich z. B. aus der Darstellung zu den Jahren vor 1914 herauslesen, dass die Reaktionen auf Massen und Massenkultur eine Menge zu tun hatten mit einem als weiterhin intakt empfundenen republikanischen Modell in Frankreich (171 f.).

Abgesehen von solchen kleineren Bedenken handelt es sich bei der Studie ohne Frage um eine höchst anregende und souveräne Gesamtleistung, die hohe Standards setzt für künftige Arbeiten zu einer Perzeptionsgeschichte massenkultureller Phänomene in Frankreich.


Anmerkungen:

[1] Vgl. Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970, 4. Auflage, Frankfurt: Fischer 2007; Dominique Kalifa: La culture de masse en France 1860-1930, Paris: La Découverte 2001.

[2] Vgl. z.B. Jean-François Sirinelli / Jean-Pierre Rioux (éds.): La culture de masse en France de la Belle Epoque à aujourd'hui, Paris: Hachette 22006.

[3] Vgl. Ludovic Tournés: New Orleans sur Seine. Histoire du jazz en France, Paris: Fayard 1999.

[4] Vgl. z. B. Steve Cannon / Hugh Dauncey (eds.): Popular music in France from chanson to techno. Culture, identity, society, Aldershot: Ashgate 2003.

[5] Vgl. z. B. Vanessa R. Schwartz: It's so French. Hollywood, Paris and the making of cosmopolitan film culture, Chicago / London: University of Chicago Press 2007.

[6] Vgl. Evelyne Cohen / Marie-Françoise Lévy (éds.): La télévision des Trente Glorieuses. Culture et politique, Paris: CNRS Editions 2007.

[7] Vgl. z. B. Ludivine Bantigny: Le plus bel âge? Jeunes et jeunesse de l'aube des «trente glorieuses» à la guerre d'Algérie, Paris: Fayard 2007; Richard Yvan Jobs: Riding the new wave. Youth and rejuvenation in France after the Second World War, Stanford: University Press 2007.

[8] Dazu David L. Looseley: The politics of fun. Cultural policy and debate in contemporary France, Oxford: Berg 1995; Maike Koops: Die Konstruktion nationaler und europäischer Identitäten am Beispiel der französischen Kulturpolitik 1981-1995, Osnabrück: Universitätsverlag Rasch 2002, S. 176 ff.; Philippe Urfalino: L'invention de la politique culturelle, Paris: Hachette 22007, S. 338 f.

[9] Zuletzt z. B. Reiner Marcowitz (Hrsg.): Nationale Identität und transnationale Einflüsse. Amerikanisierung, Europäisierung und Globalisierung in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, München: Oldenbourg 2007; Olivier Dard / Hans-Jürgen Lüsebrink (Hgg.): Américanisation et anti-américanismes comparés, Lille: Editions du Septentrion 2008.

[10] Vgl. Stanley Hoffmann u.a.: A la recherche de la France, Paris: Seuil 1963; Michel Crozier: La société bloquée, Paris: Seuil 1970, Paris: Seuil 31995. Jean-François Sirinelli: Les vingt décisives. Le passé proche de notre avenir 1965-1985, Paris: Fayard 2007.

[11] Vgl. z. B. Dietmar Hüser: RAPublikanische Synthese. Eine französische Zeitgeschichte populärer Musik und politischer Kultur, Köln: Böhlau 2004, oder auch die Kulturbeiträge bei Tony Chafer / Emmanuel Godin (Hgg.): The French Exception, Oxford / New York: Berghahn Press 2005.

Dietmar Hüser