Denise Klein: Die osmanischen 'Ulema' des 17. Jahrhunderts. Eine geschlossene Gesellschaft? (= Islamkundliche Untersuchungen; 274), Berlin: Klaus Schwarz-Verlag 2007, 224 S., ISBN 978-3-87997-337-8, EUR 39,00
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In dieser hervorragenden Magisterarbeit geht es der Autorin in erster Linie um die Zusammensetzung der Istanbuler Gelehrtenschaft (İlmiye) im 17. Jahrhundert. Wie groß war, so fragt sich Denise Klein, die soziale Mobilität innerhalb der İlmiye? Ausgangspunkt für ihre Überlegungen bildet die Studie "The Politics of Piety. The Ottoman Ulema in the Postclassical Age (1600-1800)" aus der Feder der an der University of Maryland tätigen Osmanistin Madeline C. Zilfi (Minneapolis 1988). Zilfi war darin zu dem Schluss gekommen, dass die osmanische religiöse Elite eine in dem von ihr untersuchten Zeitraum zunehmend abgeschlossene gesellschaftliche Gruppe darstellte, in die Aspiranten auf hohe Ämter, die nicht aus traditionellen Istanbuler Ulemafamilien stammen, nur sehr schwer Eingang fanden. Obgleich im Titel der Anspruch erhoben wird, das 17. Jahrhundert gleichberechtigt zu behandeln, stellt sich bei näherer Betrachtung jedoch heraus, dass Zilfis Schwerpunkt eindeutig auf dem 18. Säkulum liegt. Hier knüpft Denise Klein an, indem sie sich auf die Analyse von Lebensbeschreibungen Istanbuler Ulema konzentriert, die zwischen 1630 und 1703 gestorben sind. Als Quelle dient ihr Mehmed Şeyhî Efendis (gestorben 1732/33) biographisches Sammelwerk "Vekayiü'l-Fudalâ" [2 Bde. hg. von Abdülkadir Özcan 1989 u.d.T. "Şekaik Nu'maniye ve Zeyilleri" (hier: Bd. 3 und 4)]. In seinem Werk unterscheidet Şeyhî drei Personengruppen voneinander: alim, Şeyh und Şair. Da sich die Zugehörigkeit von einem Şeyh und Şair zu den ulema nicht in jedem Fall eindeutig bestimmen lässt, berücksichtigt Denise Klein diese beiden Klassen nicht, sondern beschränkt sich auf die Biogramme der übrigen, eindeutig klassifizierten 715 Religionsgelehrten. Die "Vekayiü'l-Fudalâ" eignen sich ausschließlich zur Erforschung der Istanbuler Gesellschaft, denn das Werk enthält keine Angaben über Ulema und religiöse Kreise, die außerhalb der osmanischen Hauptstadt gewirkt haben. Darüber hinaus sind weder einfache Moscheeangestellte (Hatib, Imam, Muezzin etc.) noch Provinzkadis, Muftis oder niedrigrangige ulema in die Sammlung aufgenommen worden, sondern allein Religionsgelehrte, die ein Gehalt von mehr als 40 Akçe pro Tag erhielten. Ein Alim, den Şeyhî für einen Eintrag für würdig genug befindet, gehört zu den Männern mit höherrangigen Aufgaben in der religiösen Ordnung des Reiches. Die Zugehörigkeit zu dieser akademischen Elite bedeutete, dass man keine Steuern zahlen musste, ein hohes Ansehen in der Bevölkerung genoss und über eine gewisse Unabhängigkeit verfügte. Zu den Auserwählten, die 50 oder 60 Akçe per diem ausgezahlt bekamen, zählten etwa der Şeyhülislam und die beiden Kazasker, die Kadis bedeutender Gerichtsbezirke, die Müderris an Medresen hohen Niveaus, der Nabiküleşraf, der Imam des Sultans sowie honorige Ärzte. Alle diese Personen waren in der Regel an die Hauptstadt gebunden.
Hochinteressant ist die Skizzierung des idealtypischen Ausbildungsverlaufes eines Gelehrten im ersten Hauptteil der Arbeit. Studenten, die ihre Ausbildung bis zum Erreichen einer der hohen Medresenstufen fortgesetzt hatten, bezeichnete man als danişmend. Den Abschluss der Zeit als danişmend markierte der Erhalt einer sogenannten mülâzemet, wobei nur genau benannte hochrangige Kadis und Müderris eine ebenfalls genau festgelegte Zahl von mülâzemet vergeben durften. Grundsätzlich waren an den Medresen in der Provinz lokale Gelehrte tätig. Diejenigen aber, die in die Spitzenpositionen der İlmiye aufsteigen wollten, mussten alles daran setzen, einen Studienplatz an den höchsten Hochschulen des Reiches in Istanbul zu bekommen, um dort eine mülâzemet erhalten zu können. Dieser Abschluss öffnete in der Regel das erste Tor zu einer Karriere in der akademischen Community. Allerdings setzte sich im Laufe der Zeit die Regel durch, dass nur alle sieben Jahre solche mülâzemet ausgestellt wurden. Hinzu kam eine zusätzliche Erschwernis auf dem Weg zum erhofften Traumjob: Man hatte noch eine weitere Qualifikation vorzuweisen, nämlich einen rüus. Dies stellte eine Art Lehrdiplom dar, das ein angehender Gelehrter am Ende einer im 18. Jahrhundert siebenjährigen Wartezeit als mülâzim bekam. Erst der Erhalt eines rüus bedeutete den wirklichen Eintritt in die Welt der wichtigen ulema. Diese Hürden sollten vor allem gravierende Missverhältnis zwischen Aspiranten auf Ämter und begrenztem Angebot an Posten in der religiösen Hierarchie regeln.
Als mülâzim trug man sich in einen Register (defter) ein, von denen es zwei gab - eines beim Heeresrichter von Anatolien und eines beim Heeresrichter von Rumelien. Nun hieß es warten, bis ein geeigneter Posten als niedriger müderris oder kleiner Kadi frei wurde. Einem Alim nach 40 Akçe pro Tag stand an jeder Stelle seines stufenweisen Aufstiegs in der Müderrislaufbahn offen, sich für die Lehre oder die juristische Laufbahn zu entscheiden. Das Medresensystem hatte eine klare hierarchische Struktur: Innerhalb der Hochschulen, die mehr als 50 Akçe pro Tag bezahlten, existierten sechs Stufen, in den Universitäten der 60-Akçe-Ebene noch einmal fünf weitere Level. Bis zum Bau der Süleymaniye külliyesi durch Süleyman I. (1520-1566) in den 50er Jahren des 16. Jahrhunderts bildeten die acht Medresen (Sahn-i Seman) des von Mehmed II. (1451-1481) errichteten Komplexes um die Fatih Camii die höchste Stufe dieser Hierarchie. Die Höhe des Einkommens eines müderris hing vom Rang der Medrese ab. Die Amtszeiten eines Gelehrten waren nur kurz, meist kaum einmal zwei Jahre, dann schied man wieder aus dem Amt aus und musste eine Wartezeit durchlaufen. Frei werdende Ämter wurden nach dem Prinzip der Seniorität innerhalb der Hierarchiestufe vergeben. Die Gelehrten überbrückten die Auszeit normalerweise mit kleineren Kadiämtern oder einer von der Regierung gezahlten Apanage. Alle ulema wurden vom Divân-ı Hümayun, also von der obersten Verwaltungsbehörde, wenn man so will, eingesetzt und auch wieder aus dem Amt entlassen. Dies bedeutete eine systematische Verflechtung von Staat und İlmiye, aus der sich auch das Fehlen tiefgreifender Konflikte zwischen den Religionsgelehrten und den Machtträgern des Osmanischen Reiches erklärt. Die Kontrollmechanismen funktionierten aus Sicht der Zentrale sehr gut.
In dem zweiten Hauptteil der hier vorliegenden Arbeit steht die quantitative Auswertung der Quelle im Vordergrund. Dabei geht Denise Klein von einer (eventuell zweifelhaften?) Prämisse aus: die zahlreichen Gelehrten, über deren Väter und Verwandte Şeyhî nichts schreibt, stammen nicht aus Istanbuler Ulemafamilien. Zähle man also, Denise Klein zufolge, die Biographien derjenigen Ulema, deren Familien nach Şeyhîs Auskunft nicht der hauptstädtischen Gelehrtenschaft angehörten, und die derjenigen, über deren soziale Herkunft er schweigt, zusammen und stelle sie den hohen Istanbuler Ulema, die Söhne ebensolcher waren, gegenüber, erhielte man einen Indikator für die soziale Durchlässigkeit der osmanischen religiösen Elite. Es geht Denise Klein um die Fragen. Woher kamen die Gelehrten? Wie viele der Ulema entstammten nicht traditionellen Istanbuler Gelehrtenfamilien und aus welchen sozialen Schichten gelang ihnen der Aufstieg in die hohen Ämter der İlmiye? Das Ergebnis ist überraschend: nur ungefähr drei von zehn entstammten aus einer hauptstädtischen Gelehrtenfamilie, die überwiegende Mehrheit aber, nämlich sieben von zehn, waren nicht Söhne dieses Kreises. 50 bis 60% der Ulema begaben sich erst für ihre Studium in die Hauptstadt. Auch die höchsten Ämter der religiösen Ordnung des Staates wurden von Männern eingenommen, deren Ursprünge nicht zwangsläufig in der Istanbuler İlmiye lagen. Dabei spielte Patronage für die von außen kommenden Religionsgelehrten natürlich eine wichtige Rolle im Weiterkommen auf der Karriereleiter.
Allgemeine quantitative Aussagen über die sozialen Ursprünge der Mitglieder der osmanischen İlmiye im 17. Jahrhundert sind leider nicht möglich. Sie kamen aus Metropolen, Kleinstädten und Dörfern, aus den wichtigen Zentren, den Provinzen und aus Gebieten, die außerhalb der Reichsgrenzen lagen. Der Aufstieg aus der Klasse der reaya durch Bildung konnte durchaus realisiert werden, beschränkte sich allerdings weitgehend auf Söhne wohlhabender Händler und Handwerker. Bauern, Nomaden und Tagelöhner schafften es im allgemeinen nicht, ihren Kindern eine Ausbildung in Istanbul zu ermöglichen.
Denise Klein kommt am Ende ihrer überzeugenden Studie zu dem Schluß, dass es zwar durchaus sein kann, dass die Vergabepraktiken von mülâzemet und rüus sowie Korruption, Ämterkauf und Nepotismus eine Abschottung der Klasse der Istanbuler Ulema auch im 17. Jahrhundert beförderten und die Entfaltungsmöglichkeiten aufstrebender "Außenseiter" beeinträchtigten. Eine institutionelle Benachteiligung konnte sich allerdings vor der Zeit Ahmeds III. (1703-1730) ganz offensichtlich nicht herausbilden.
Stephan Conermann