Irene Schneider: The Petitioning System in Iran. State, Society and Power Relations in the Late 19th Century (= Iranica; 11), Wiesbaden: Harrassowitz 2007, XI + 246 S., ISBN 978-3-447-05469-0, EUR 50,00
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Im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation konnten sich die Untertanen dem Kaiser, König oder Fürsten mit Suppliken, die meist im Zusammenhang mit Rechtsstreitigkeiten standen, auf schriftlichem Wege oder mitunter in einer Anhörung nähern. Dass der Herrscher den Armen und Schwachen Recht und Gnade zu gewähren habe, gehört zu den tradierten Leitbildern jener Zeit. In Deutschland schuf dann zum ersten Mal das von Friedrich dem Großen auf den Weg gebrachte Allgemeine Preußische Landrecht von 1794 die rechtliche Verpflichtung zu einer sorgfältigen Behandlung einer Petition, insbesondere bei einer gut begründeten Petition von allgemeinem Interesse. Die Praxis, dass sich die Bevölkerung mit Beschwerden an den Herrscher wenden konnte, beschränkt sich natürlich nicht auf Europa, sondern war etwa auch im islamischen Bereich gang und gäbe. Dort existierte ein duales Rechtssystem, wenn auch die Grenzen zwischen den Organen bisweilen sehr unklar waren: auf der einen Seite standen die religiösen Gerichtshöfe, denen die Kadis vorstanden, auf der anderen Seite die säkularen Institutionen, die von "Staatsbeamten" geleitet wurden. Zu der letztgenannten Rechtspraxis gibt es bisher in der Orientalistik nur wenig substantielle Forschung. Aus diesem Grund kann das hier zu besprechende Buch der Göttinger Islamwissenschaftlerin Irene Schneider als grundlegend und wegweisend betrachtet werden. Irene Schneider erhielt aus der Teheraner Universitätsbibliothek einen alten Mikrofilm mit Dokumenten, die bedauerlicherweise während der Iranischen Revolution von 1979 verloren gegangen sind. Es handelt sich dabei nicht um eine Sammlung von Originalpetitionen, sondern um Zusammenfassungen, die von den Beamten des persischen Herrschers Nasir ad-Din Shah (reg. von 1848-1896) angefertigt wurden, um das Material zu bündeln und Entscheidungen zu erleichtern. Hinzu kommen Kommentare zu bestimmten politischen Ereignissen sowie andere offizielle Schreiben und Erlasse. Dieser bemerkenswerte Fund von über 2000 Berichten gibt uns einen einmaligen Einblick in die Bedürfnisse, Nöte und Sorgen des Volkes. Da sich die Zahl der Schriftstücke für eine erste Publikation als zu umfangreich erwies, hat Irene Schneider eine sinnvolle Auswahl getroffen. In ihrem Buch präsentiert sie uns die 120 frühesten Dokumente, also diejenigen Zusammenfassungen von Petitionen, die zwischen Dezember 1883 und Januar 1884 verfasst und in Teheran bei Hofe eingereicht wurden. Der Leser erfreut sich einer ausgezeichneten Edition der Dokumente, zu der sich die entsprechenden Faksimiles samt Paraphrasen gesellen. Dem Editionsteil stellt die Autorin einen ausführlichen und sehr gelungenen Analyseteil voran. Einer Beschreibung des politischen und juristischen Systems des ausgehenden 19. Jahrhunderts in Iran, also der Zeit der Herrschaft der Qadscharendynastie, folgt eine aufschlussreiche Rekonstruktion des Petitionswesens einschließlich einer Skizze der sozialen Profile der Bittsteller. Es schließt sich eine Analyse der Rolle, die die Petitionsgerichtsbarkeit für die iranische Gesellschaft gespielt hat, an. Auf der Grundlage von Foucaults Konzept der Macht kann uns Irene Schneider eine luzide Interpretation der Beziehungen zwischen dem Herrscher einerseits und der Bevölkerung andererseits bieten. Das Petitionswesen war ein integraler Bestandteil der islamischen politischen Kultur. Es setzte sich sowohl aus rechtlichen wie auch aus politischen Elementen zusammen und war tief in traditionellen islamischen und iranischen Vorstellungen von Macht und Herrschaft verwurzelt, die in Fürstenspiegeln und in Schriften über eine gute Staatsführung beschrieben werden. Wenn man sich die hier vorgestellten Dokumente ansieht, muss die Idee eines von der absolutistischen Spitze einer muslimischen Gemeinschaft konsequent nach unten reichenden Machtflusses revidiert werden. Herrschaft wird eben nicht nur von dem Schah ausgeübt. Die Machtbeziehungen zwischen oben und unten sind komplexer Natur und eng verbunden mit allgemeinen Diskursen über die Beziehung eines islamischen Potentaten zum Volk und umgekehrt. Vom Standpunkt der Bevölkerung stellte das Petitionswesen eine Institution dar, die ihre Rechte gewährleistete und Gerechtigkeit in ihrem Sinne implementierte. Die Bittsteller sahen den Schah eben nicht als allmächtig und als die einzige Person an, die für Gerechtigkeit sorgen konnte, sondern als jemanden, der durchaus verpflichtet war, ihre Petitionen ernst zu nehmen, auf sie zu reagieren und im Zweifelsfall Gerechtigkeit walten zu lassen. Wurden diese Erwartungen nicht erfüllt, wuchs die Unzufriedenheit. Damit konnte sich auch das Machtverhältnis ändern und ein neuer Diskurs über Gerechtigkeit entstehen, in dem die Loyalität zum Schah zumindest überdacht wurde. Der Schritt war dann nicht mehr weit, die autokratische Herrschaft überhaupt in Frage gestellt. Die Tabak-Revolution von 1891 - der erste Massenprotest in der iranischen Geschichte - und die Konstitutionelle Revolution 1906-1911 sind sicher auch in diesem Zusammenhang zu sehen. Alles in allem hat Irene Schneider eine vorzügliche philologische und geschichtswissenschaftliche Arbeit zu einem fachübergreifenden Thema vorgelegt.
Stephan Conermann