Martin Scharfe: Berg-Sucht. Eine Kulturgeschichte des frühen Alpinismus 1750-1850, Wien: Böhlau 2007, 382 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-205-77641-3, EUR 49,00
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"Will man sich dem Gebiet des Seelischen auch nur ungefähr nähern, so ist eine gewisse Demut vor den Texten und ihren Autoren unerlässlich. Wer ihnen mit der Hochnäsigkeit des Männlichkeitswahns, der sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts breitgrätschte, begegnet, der wird sie gründlich missverstehen." (23) Ein Satz aus der "Einführung", die explizit eine für "eilige Rezensenten" (17) sein will. Der Rezensent hier hatte keine Eile. Er hat das Buch trotz dieser Einführung bis zum Ende gelesen. Was soll man denn unter einem "hochnäsig sich breitgrätschenden Männlichkeitswahn" verstehen in einem Buch, das von der "Kulturgeschichte des frühen Alpinismus" handeln möchte?
Er hat sich durch die Einführung gequält, die alles andere war als eine Einführung "für flotte Rezensenten" ("Vorspruch", 17) und schon gar nicht für ein Lesepublikum, das mit einer Einführung die Erwartung verbindet, etwas über das Buch vorab zu erfahren. Lassen wir es (und kommen später darauf zurück).
Worum geht es: Nicht primär um die Geschichte des frühen Alpinismus 1750-1850, also nicht um eine chronologisch gegliederte Ereigniskette der Gipfelbesteigungen. Der Schlüssel zu diesem Buch liegt in dem Wort "Kulturgeschichte", und die ist mehr als bloße Ereignisgeschichte. So unternimmt der Autor das Unterfangen, die Gipfelbesteigungen nicht nur vor dem gesamten zeitgenössischen kulturgeschichtlichen Hintergrund zu interpretieren. Zeitimmanente Interpretation war immer schon eine historische Methode. Da jedoch Geschichte immer heute erzählte Geschichte ist, bezieht der Autor auch viele kulturgeschichtliche Deutungsansätze der Gegenwart mit ein. Daher also der freudianisch sich "breitgrätschende Männlichkeitswahn". Und der hat mit historischer Methode nur bedingt zu tun.
Es wird dem Leser viel abverlangt: Kenntnis der Geistesgeschichte der letzten 250 Jahre, nicht nur Freud, auch die Kenntnis von Kants "Kritik der Urteilskraft" wird da so nebenbei vorausgesetzt, wenn der Autor z.B. über das Erhabene oder das Schaurig-Schöne beim Blick in grauenvolle Alpen-Abgründe reflektiert (101). Stichwörter des sorgfältig gemachten Sachregisters verraten, was den Leser u.a. so erwartet: das "Andere der Vernunft", "Brockengespenst", "Entblößung", "Entomologie", "Flatulenz, pneumatische", "Gamsfräulein", "Neptunismus", "Philobatismus", "Scham, promethische", "Sklave der Natur", "Würde des Gesteins", "Zynismus". Aber natürlich auch vieles andere, sehr leicht zu Verstehendes: "Alm", "Augengläser", "Blick vom Satelliten", "Freizeitpark", "ganzheitlich", "Motor", "schwarz", "Zwerg". Wenn man irgendetwas Abgelegenes oder nur Ungefähres sucht oder wiederfinden möchte: Man findet es mit Hilfe solcher ungewohnter Stichwörter. Aber nicht nur einzelne Stichwörter sind ungewohnt. Vor allem ist es der "Blick" auf die Alpengipfel und von den Alpengipfeln. "Blick" ist ein zentraler Begriff im Buch.
Die Hauptthesen lassen sich so zusammenfassen: Die Alpengipfel galten in vormodernen Zeiten als schrecklich, gefährlich, als unheimliche Gipfel des Todes, wo der einfache Mensch, der Berghirt, der Bergbauer, der "Alpler" nichts zu schaffen hat - in einem doppelten Sinn: Da gibt es nichts, was sich lohnte, und da darf er auch nicht hin. An der Wende zur Moderne - daher die Fixierung auf den Zeitraum von 1750-1850 - weicht das Tabu und die Angst vor dem Grauen dem Bedürfnis, die unbezwingbaren Gipfel, die weißen Flecken auf der Landkarte zu tilgen, die Berge zu besiegen, zu besteigen, zu kartografieren und ihnen Zeichen ihrer Unterjochung (Gipfelzeichen, Steinmanderl, Gipfelkreuze) einzupflanzen, die Bergschädel gleichsam zu "trepanieren" (95, 248, 270), auf ihnen sich "breitzugrätschen".
Das geht jedoch nicht so einfach. Der moderne Mensch braucht vielfältige Hilfen, nicht nur Gerätschaften (Seile, Gurte, Leitern und dergleichen, deren Entwicklung eingehend beschrieben werden), nicht nur (die ersten) Hütten und Biwaks, in denen man sich körperlich nahe kommt, was Probleme schafft. Auch der eigene Körper, der "Leib", ist Hilfe. Denn man braucht ihn in seiner Ganzheit, um sich der Gipfel zu bemächtigen. Man braucht jedoch dazu noch die Hilfe anderer Leiber, die Hilfe der berggewandten, gemsengleichen Älpler, die den zu den Gipfeln Stürmenden mitsamt ihren unverständlichen naturwissenschaftlichen und ästhetischen Enthusiasmen nur Unverständnis entgegenbringen. Sie können dem modernen Treiben allenfalls nur finanzielle Vorteile - manchmal etwas schlitzohrig - abgewinnen. Sie sind einfach als Führer in die unbekannte Bergwelt nötig. Dann stoßen aber soziale (und körperliche) Kulturen (Ausdünstungen!) zusammen, die ebenfalls in ihrer wechselseitigen Angewiesenheit feinsinnig gedeutet werden. Und nicht zuletzt spielt das Mythische, das Religiöse, das Seelische, das nicht nur wortwörtlich zu verstehende Abgründige eine nicht zu unterschätzende Rolle bei der Analyse des psychischen Phänomens der "Berg-Sucht", wie der Titel des Buches nicht umsonst heißt.
Das Buch ist das Werk eines Professors für Europäische Ethnologie und Kulturwissenschaft (Marburg, Innsbruck), der zum Zeitpunkt des Erscheinens 72 Jahre zählte und der versteht, souverän und beziehungsreich mit der Kultur- und Geistesgeschichte der letzten 250 Jahre umzugehen. Da werden nicht nur brillierende Thesen formuliert. Die Interpretationen werden stets sehr gut plausibilisiert durch eine Fülle von historischen, soziologischen, psychologischen, philosophischen - eben - im weitesten Sinn - kulturgeschichtlichen Verweisen. Allein, die Auflistung der Belegstellen macht 20% des Buchumfanges aus. Da wird die "Berg-Sucht" gründlich durchdrungen.
Das Ergebnis: Kurz: Alles, aber auch wirklich alles - von der "Himmelsleiter" (134f.) bis zum banalen "Steigeisen" (220) - was direkt oder metaphorisch mit der Bezwingung der Berge zusammenhängt, ist Gegenstand der "Scharfe"-sinnigen "Kulturgeschichte des frühen Alpinismus", nicht wirklich ein historisches Buch und auch kein übliches Ethnologisches.
Wer sich auf das Buch einlässt (und über nicht wenig kultur- und geistesgeschichtliches Vorwissen verfügt), der wird es mit Vergnügen und intellektuellem Gewinn lesen, der wird überrascht sein über die vielfältigen und manchmal etwas ungewohnten, weit ausholenden und doch immer nachvollziehbaren Deutungen, der wird angetan sein über den Reichtum an Material und an Überlegungen, der wird dann auch die "Einführung" am Schluss (wenn er dorthin gekommen ist) noch einmal lesen: Diesmal versteht er sie.
Manfred Hanisch