Adam Zamoyski: 1812. Napoleons Feldzug in Russland, München: C.H.Beck 2012, 720 S., 60 Abb., 24 Karten, ISBN 978-3-406-63170-2, EUR 29,95
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Der Verfasser sagt mit bemerkenswerter Klarheit, was er vorhat: Er will mit eigenen Worten "eine außergewöhnliche Geschichte [...] erzählen [...]. Vor allem habe ich mich bemüht, aufzuzeigen, was diese Ereignisse auf allen Ebenen für die Betroffenen bedeutet haben [...] Ich habe daher in hohem Maß auf die Berichte von Beteiligten zurückgegriffen". Und ein paar Zeilen vorher steht dann gleichsam als wissenschaftliche reservatio mentalis: "Einem solchen Thema gerecht zu werden, würde viele Jahre benötigen und zudem ein Werk von mindestens doppeltem Umfang des vorliegenden Buches erforderlich machen, das auch nicht den Anspruch erhebt, alle Fragen erschöpfend und endgültig zu beantworten" (15).
Vor allem will der Verfasser "erzählen". Es ist anzunehmen, dass er diesen Begriff nicht nebenher benutzt hat, sondern ihn geschichtsmethodologisch verwendet, und zwar im Kontext von "Geschichte erzählen" im Gegensatz z. B. zu strukturanalytisch "erklären". Und das Buch ist in der Tat nichts anderes als eine groß angelegte Erzählung jener Geschichten, welche die Beteiligten als Ego-Dokumente der Nachwelt hinterlassen haben, die im übrigen alle schon bekannt sind, aber derer es so viele gibt, dass fast keiner sie überblickt. Zamoyski ist einer der ganz wenigen. Zwar berücksichtigt der Verfasser auch die großen Akteure der Geschichte: Napoleon und auf der anderen Seite Zar Alexander und seinen Feldherrn Kutusow, der zwar siegt, aber mehr durch Zufall als durch eigene Leistung, was - Legenden und Selbststilisierungen zum Trotz - im Buch auch sehr genau dargestellt wird.
Aber Geschichte und gerade dieses Werk ist mitnichten eine Geschichte der großen Männer. Viel, viel mehr als große Männer, Zaren und Feldherren, kommen die unteren Chargen, die kleinen Leute zu Wort, wenn nicht immer direkt, sodann indirekt in Form von Berichten anderer Personen über deren Schicksal. So wird das Buch in weiten Teilen eine Geschichte "von unten" aus der Perspektive einfacher Menschen: Des russischen Bauern, der, nachdem sein Hof geplündert und seine Hütte als Brennmaterial verfeuert wurde, im russischen Winter erfriert und verhungert. Des russischen Leibeigenen, der in den Soldatenrock gesteckt wurde und sich gemäß der Militärdoktrin Kutusows unbewegt im Artilleriefeuer einfach totschießen lassen muss. Oder des nackten Soldaten der Grande Armee, der erfriert, weil seine Kameraden ihm im Schlaf Uniform und Stiefel geklaut haben. Und dergleichen anschaulich ergreifende Beispiele mehr.
Bei all dem wenig Erhabenen, was das Jahr 1812 so mit sich brachte, verstand sich dabei das Idol Napoleon stets massenwirksam als solches zu stilisieren. Aber die offiziell propagierten französischen, aber auch die russischen Geschichtsbilder haben durchaus Risse - auch und gerade aus einer Perspektive von unten. Auch dies erzählt der Verfasser.
All die Unmengen von zeitgenössischen Quellen gesichtet und in eine große Geschichtserzählung über 1812 gegossen zu haben ist eine gewaltige Leistung. Das Ergebnis ist eine monumentale Geschichtserzählung. Der Vergleich zu Tolstois Krieg und Frieden liegt nahe. Aber anders als bei Tolstoi, für den die Geschichte nur literarische Vorlage für ein Kunstwerk ist, das seinen eigenen Gesetzen folgt, anders als bei didaktischen Geschichtserzählungen, bei denen sich auch Fakten und Fiktion um der besseren Eindringlichkeit willen vermengen, ist dieses Werk weitestgehend aus den Quellen geschöpft, also keine fiktionalen Elemente, kein fiktionaler Dialog, sondern nur - und da ist die Hauptleistung zu sehen: ein geschicktes Arrangement der einzelnen Berichte zu einem großen Ganzen mit einem ungeheuren Detailreichtum in jeder Hinsicht. So wird z. B. dem Leser, um begreifen zu können, wie bei Borodino die Schlacht wütet, genau erzählt, wie Kanonenkugeln, Granaten und Kartätschen die Soldaten von der technischen Seite her sehr unterschiedlich physisch zerfetzen.
Mut und Habgier, Leid und Leidenschaft, Unfähigkeit und Hybris auf allen Seiten, das wird nicht nur erzählt, sondern darüber hinaus noch eindringlich bebildert - nicht mit den üblichen Wiedergaben der Historiengemälde aus napoleonischer Zeit, sondern mit einer beachtlichen Anzahl (60!) von dahin geworfenen Strichzeichnungen aus der Feder der Beteiligten. Auch wegen dieser Bilder wird die Darstellung ungemein packend und geradezu "schaurig-schön", was bekanntlich eine ästhetische Kategorie ist, derer sich der Autor ausgiebig befleißigt. Vielleicht auch deshalb wird so mancher Leser - darunter gewiss auch so mancher Fachhistoriker - das Buch solange nicht aus der Hand legen, bis er es zu Ende gelesen hat. Allerdings ist es nichts für zart besaitete Leser.
Bemerkenswert und bei dem Zuschnitt eines solchen Werkes nicht unbedingt zu erwarten: Ein grober Forschungsüberblick über 1812, über die unterschiedlichen Interpretationen und über die ebenso diffizile wie monströse Quellenlage, leiten das Werk ein. Und wenn die Geschichtswissenschaft aufgrund divergenter Quellen und Lehrmeinungen zu kontroversen Ergebnissen kommt (oder zu gar keinen) wie z. B. zur Frage, warum brannte Moskau eigentlich und wie viele Einwohner befanden sich denn noch im besetzten Moskau, so kommen die unterschiedlichen Auffassungen zu Wort in Form von nacheinander wiedergegebenen Berichten der Zeitgenossen mit unterschiedlichem Inhalt und unterschiedlichen Wertungen. Dabei werden alle Berichte - manchmal mit sehr globalen - Anmerkungen unterfüttert, die sich auf Quellennachweise und auch auf Sekundärliteratur beziehen. Auch wenn Zamoyski nicht den Anspruch hat, alle Fragen, schon gar nicht alle wissenschaftliche Fragen erschöpfend zu beantworten, so hat das Buch es wissenschaftlich in sich, auch wenn es der Leser nicht sofort bemerkt.
Der Leser - und damit sind wir beim Adressaten - ist die nicht unbeträchtliche Zahl der an Geschichte Interessierten, und nicht der Historiker vom Fach. Aber selbst ein Napoleonkenner wird Zamoyskis 1812 ebenfalls mit Vergnügen und Gewinn lesen, auch wenn für ihn das Buch keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse enthält. Allein durch die Lektüre gewinnt 1812 für jeden an eindringlicher Anschaulichkeit.
Fazit: Adam Zamoyskis 1812 ist eine aus Quellen geschöpfte, monumentale Geschichts-"Erzählung" aus der Sicht aller Beteiligten - von oben und vor allem von unten - mit einem ungemein großen Facetten- und Perspektivenreichtum. Es steht in durchaus gewollter Konkurrenz zu Tolstois Krieg und Frieden, allerdings ohne literarisch-fiktionale Elemente. Jeder, der sich auf dieses spannend geschriebene und hervorragend komponierte Werk einlässt wird es mit Vergnügen und einem Gewinn an historischer Anschaulichkeit lesen. Und wieder einmal geschrieben, wie so manch anderes viel gelesenes historisches Werk - von einem freien Autor.
Manfred Hanisch