Angus McLaren: Impotence. A Cultural History, Chicago: University of Chicago Press 2007, xvii + 332 S., ISBN 978-0-226-50076-8, GBP 19,00
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Dass die historische Erforschung von männlichen Sexualitäten ein Schattendasein führt, kann niemand mehr ernsthaft behaupten. Führt man sich die Themen bisheriger historischer Arbeiten auf diesem Feld vor Augen, so fällt auf, dass zumeist betrachtet wurde, was passierte, wenn männliche Sexualität das Maß von wohldefinierter Sozialverträglichkeit verlassen hat: Wie reagierte die Gesellschaft, wenn sich ein Zuviel an männlicher sexueller Potenz Bahn zu brechen drohte? Was hat es bedeutet, wenn sich männliche Sexualität ausschließlich in triebhaft-devianten Formen bewegt hat? Vor diesem Hintergrund haben sich zahlreiche Studien etwa mit Formen von männlicher sexueller Gewalt oder der Konstruktion der "homosexuellen Persönlichkeit" befasst. Gerade jener zum Beispiel wurde von den Zeitgenossen stets eine besonders große sexuelle Triebhaftigkeit attestiert.
Mit seinem Buch zur westlichen Kulturgeschichte der Impotenz dreht der US-amerikanische Historiker Angus McLaren nun den Spieß gewissermaßen um: Er beschäftigt sich mit einer Form von sexueller Devianz, die sich nicht durch ein Zuviel, sondern durch ein Zuwenig an sexueller Aktivität auszeichnete. Mit welchen kulturellen Bedeutungen - so fragt McLaren - war das Reden über die männliche Unfähigkeit zur Erektion verbunden und in welchen Bedeutungszusammenhängen diskutierten die Menschen - von der griechischen Antike bis in unsere Viagra-Gegenwart hinein - die fast immer als Problem deklarierte "Impotenz"? Dabei verfolgt McLaren in seiner Studie das Ziel, "to locate impotence in the context of changing social expectations and cultural givens" (12). Und er stellt gleich zu Beginn seiner Ausführungen klar, dass eine auf diese Weise konzipierte Kulturgeschichte der Impotenz in erster Linie Auskunft über den historischen Wandel von Sexualität und Männlichkeit gibt.
In zeitlicher Hinsicht präsentiert Angus McLaren dabei einen beachtlichen Rundumschlag: Historischer Ausgangspunkt sind das alte Griechenland und Rom. Hier - so der Autor - wurde Männlichkeit über die Fähigkeit zur Penetration hergestellt, wobei erst in zweiter Linie wichtig war, ob die penetrierte Person eine Frau oder ein (jugendlicher) Mann war. Männliche Potenz war - wie McLaren vor allem anhand von literarischen Spottversen aufzeigt - unmittelbare Voraussetzung für Mann-Sein, Impotenz galt als Schande. Die antike Gesellschaftsordnung ließ jedoch auch den Freiraum, ohne die Fähigkeit zur Erektion als Mann anerkannt zu werden, etwa indem das Rechtsinstitut der Adoption die ebenso männliche Rolle des Vaters ermöglichte.
Zweite Station ist das christliche Mittelalter. Zur Auswertung kommen hier zumeist Quellen aus kirchlichen und theologischen Zusammenhängen. In diesen Texten bedeutete Impotenz vor allem das Unvermögen, dem göttlichen Auftrag von Reproduktion und Prokreativität in der Ehe nachzukommen. Von Geistlichen peinlich genau attestierte Impotenz konnte zur Annullierung der Ehe führen, wobei die Inquisition die "Schuldfrage" nicht ausschließlich an Männer richtete. Auch Frauen - und hier kulminierten Angstszenarien vor weiblicher Sexualität - konnte ein gehöriger Anteil an Schuld zugewiesen werden.
Impotenz im Zeitalter der Aufklärung untersucht der Autor unter anderen am Beispiel der Manneskraft von Ludwig XVI. und George Washington. Er zeigt, dass die im 18. Jahrhundert stärker werdende Dominanz des Privaten ein allzu offenes Reden über sexuelle Defizite zurückdrängte. Umso schädlicher konnten Impotenzvorwürfe - vor allem aus den Unterschichten - gegen die französischen Monarchen wirken und nicht unwesentlich zu einer Destabilisierung der Monarchie im Ancien Régime beitragen. Im 19. Jahrhundert wurde Impotenz zunehmend vor dem Hintergrund von Konzepten etwa der Neurasthenie interpretiert. In diesen Debatten gerieten sexuelle Potenz und die damit verbundenen Vorstellungen von männlich-aktiver Sexualität zum Definitionsmerkmal von Männlichkeit, Impotenz entsprechend zum Indikator eines Männlichkeitsdefizits, das zunehmend vor dem Hintergrund medizinischer Analysefolien interpretiert wurde.
Der Autor widmet sich im Anschluss den Strategien der viktorianischen Medizin mit der Impotenz umzugehen. Er analysiert die Debatten im Umkreis von Sigmund Freud und der Frauenrechtsaktivistin Marie Stopes und betrachtet die von eugenischen Diskursen geprägte Zwischenkriegszeit, um schließlich die Diskussionen um Impotenz bei den US-amerikanischen Sexualwissenschaftlern Kinsey, Masters und Johnson in den Blick zu nehmen. Die Ausführungen zu Freud zeigen, wie psychoanalytisch motivierte Erklärungsmuster zur Impotenz Eingang etwa in Eheratgeber finden konnten und auf diese Weise erheblich zu einer Popularisierung der Freud'schen Sexualitäts- und Männlichkeitsvorstellungen beigetragen haben. Die Debatten um Impotenz im Zeitalter der Eugenik führen die LeserInnen unter anderem in Magnus Hirschfelds Berliner Institut für Sexualwissenschaft, wo Impotenz mit dem fehlerhaften Wirken von Hormondrüsen erklärt wurde.
Endpunkt von McLarens knapp 3000 Jahre umfassender Zeitreise sind die gegenwärtigen Debatten um medizinische Produkte wie Viagra, Cialis oder Levitra, welche die nun als "erektile Dysfunktion" bezeichnete Impotenz erfolgreich zu bekämpfen versprechen. Hier - so der Autor - definiere sich Männlichkeit zwar zunächst scheinbar unschuldig über den Wunsch, Spaß am Sex zu haben. Die Diskurse offenbarten jedoch tatsächlich, dass Männlichkeit hier durch das Primat sexueller Leistungsfähigkeit konstruiert wird.
Die Ausführungen von Angus McLaren zeigen einmal mehr, dass Männlichkeit und männliche Sexualität in historischen Analysen erst dann sichtbar werden, wenn man sich ihnen von den devianten oder doch zumindest als defizitär interpretierten Rändern her annähert. Die Originalität in McLarens Buch besteht darin, dass er dabei gleichzeitig über Potenz und Impotenz schreibt und dass er dabei nicht nur Männlichkeit analysiert, sondern auch untersucht, wie sich Weiblichkeit in Abgrenzung zu potenter oder eben impotenter Männlichkeit konstruierte. Durchgängig beachtet McLaren unterschiedliche Redeweisen zum Phänomen "Impotenz" und macht deren Bedeutungen für seine kulturgeschichtliche Analyse nutzbar. Das Buch ist gut lesbar und die Lektüre ausgesprochen kurzweilig. Sein Kernanliegen, Auskunft über die Historizität von Männlichkeit und männlicher Sexualität zu geben, erfüllt McLaren zweifelsfrei.
Historizität, also das Bewusstsein für die historische Wandelbarkeit von Vorstellungen über Männlichkeit und Sexualität, kommt in McLarens Arbeit jedoch gerade deshalb zum Vorschein, weil die enorme Zeitspanne, die der Autor auswählt, ein recht grobmaschiges historisches Netz entstehen lässt, das im Detail an einigen Stellen unbefriedigend bleibt. So würde man sich wünschen, dass etwa trennschärfer zwischen Männlichkeiten in griechischer und römischer Antike differenziert würde oder dass zumindest ausführlich begründet wird, warum im Kapitel zu den christlich dominierten Impotenzdebatten in der Vormoderne recht munter zwischen Quellen aus den Frühmittelalter und der Reformationszeit hin- und hergesprungen wird. Wenn McLaren altgriechische Spottverse zur Impotenz theologischen Traktaten des Mittelalters gegenüberstellt und aus diesen Quellen schlussfolgert, dass dem oft komödiantischen Reden über Impotenz in der Antike ein sehr ernsthafter Umgang mit dem Thema im Mittelalter gefolgt sei, so wird verdeckt, wie sehr eine solche Interpretation ausschließlich der Heuristik der Quellen geschuldet ist. Zudem hätten Einzelergebnisse besser in die bisherige Forschungslandschaft eingebettet werden können. Dass zum Beispiel Penetration in antiken Gesellschaften vor dem Hintergrund völlig anderer Geschlechter- und Sexualitätsvorstellungen stattfand als heute, ist keine neue Erkenntnis von McLaren, sondern schon lange common sense in der althistorischen Geschlechterforschung.
So bleibt ein zwiegespaltener Eindruck zurück: Die Fähigkeit zur epochenübergreifenden Zusammenschau eines spannenden sexuellen Phänomens kann McLarens Kulturgeschichte der Impotenz zu einer anregenden Lektüre für diejenigen werden lassen, die sich einführend mit Themen und Fragestellungen der Männlichkeits- und Sexualitätsgeschichte vertraut machen wollen. Eine präzise Verortung in den Fachdebatten bleibt gerade dem fortgeschrittenen Leser dann jedoch selbst überlassen.
Martin Lücke