Götz Aly: Unser Kampf. 1968 - ein irritierter Blick zurück, 2. Aufl., Frankfurt a.M.: S. Fischer 2008, 253 S., ISBN 978-3-10-000421-5, EUR 19,90
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1968 hat Konjunktur und Götz Aly ist immer für eine steile These gut. So könnte man es zusammenfassen. Doch damit wird man dem flott geschriebenen Pamphlet nicht ganz gerecht. Es ist eine Philippika, die das nachträgliche Erschrecken des Autors über seine eigene ideologische Verblendung zum Ausdruck bringt, aber mit noch größerem Furor mit lieb gewordenen Mythen der Altachtundsechziger abrechnen will.
Das ist teils amüsant zu lesen. So, wenn Aly über das saturierte linksalternative Milieu herzieht, das im abgeschotteten Westberlin gemütlich gedeihen und den Fall der Mauer 1989 nur als Störfall erleben konnte: "Wie schon 1945 erschienen auch diese Befreier aus dem Osten den Befreiten gänzlich unwillkommen. Ungerufen zerstörten diese Ostler die mühsam aufgebaute Alternativgemeinschaft." (13) Aus diesem Erfahrungsschock sei auch die unverhüllte Aversion gegen die Heimkehr der armen, braven DDR-Verwandten zu erklären. En passant bestätigt Aly schon in der Einleitung alle rechtschaffenen Vorurteile über die "selbstsüchtige Schläue" einer alt gewordenen linksradikalen Gemeinde, die von "erschlichener Sozialhilfe" und "gelegentlichem Versicherungsbetrug" gelebt habe.
Doch die neue Lage bot auch neue Gelegenheiten: "Einstige West-Maoisten, autonome Häuserkämpfer oder die Damen und Herren, die im 'politischen Zusammenhang Siesta' gegen die Arbeitsgesellschaft angefaulenzt hatten, brauchten sich nur auf ihre frühere Kritik am 'Sowjetrevisionismus' und am Moskauer 'Sozialimperialismus' besinnen, schon standen sie auf der richtigen Seite. Die Stasijagd konnte beginnen. Da sie selbst die demokratischen Verfahrensregeln erst als Spätbekehrte halbwegs gelernt hatten, machten sie sich mit Konvertiteneifer über die 'strukturellen Antidemokraten', die 'miefigen, totalitär verformten' Zonis her." (13) Der ironisch-witzige Ton, verbunden mit pointierten impressionistischen Miniaturen, kennzeichnet den polemischen Großessay, den man mit Vergnügen lesen kann - sofern man es schon immer gewusst hat.
Denn der Konvertiteneifer scheint auch Aly die Feder geführt zu haben. Ende 1968 von München nach Westberlin übergesiedelt, gehörte der heutige Träger des Bundesverdienstkreuzes zur Redaktion der linksradikalen Zeitung "Hochschulkampf", die sich besonders bei der Vertreibung liberaler FU-Professoren hervortat. Später arbeitete er bei der Roten Hilfe mit, eine angestrebte Karriere als Berufsrevolutionär blieb ihm glücklicherweise als junger Vater verwehrt.
Die Selbstermächtigung der Achtundsechziger zur gesellschaftlichen Avantgarde, ihre Lust an der Tabula rasa und bald auch an der Gewalt seien, so Aly, nur "als sehr deutsche Spätausläufer des Totalitarismus" zu begreifen (8). Etwas schwächer formuliert, würde man wohl von der Tradition des deutschen Illiberalismus sprechen - eine keineswegs neue These, wie etwa ein Blick auf die 1970 publizierte Streitschrift Richard Löwenthals "Der romantische Rückfall" zeigt. Geradezu lustvoll demontiert Aly so manche mythische Überhöhung. So, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit erst mit der 68er-Generation eingesetzt habe; tatsächlich waren die entscheidenden Weichen zur juristischen Aufarbeitung und publizistischen Aufklärung bereits früher gestellt worden. Ebenso wird man das harsche Urteil wohl teilen können, dass der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und vor allem die späteren maoistischen K-Sekten nichts zur konkreten Auseinandersetzung mit der mörderischen NS-Vergangenheit beigetragen, sondern diese mit der inflationären Verwendung des Faschismusbegriffs geradezu behindert haben. Wer wollte überdies bestreiten, dass die Reformbereitschaft bereits zuzeiten der Großen Koalition wesentlich ausgeprägter war, als dies die Aktivisten des SDS wahrhaben wollten?
Auch dass manche beliebte Slogans (USA-SA-SS) an politischer Dummheit kaum zu überbieten waren, dass der revolutionäre Heldenkitsch merkwürdige Blüten trieb und ausgewiesene Massenmörder bei den maoistischen Gruppierungen zum bewunderten Idol aufstiegen, all dies hält Aly unerbittlich fest. Der ethische Rigorismus der Revolutionäre erweist sich vielfach als eklatanter Realitätsverlust, auch wenn sich viele heute nur ungern daran erinnern lassen. Weniger überzeugend ist allerdings die Denunziation jeglicher Kritik an der israelischen Besatzungspolitik als linker Antisemitismus, den Aly als eine Form der Schuldübertragung auf die Opfer der deutschen Rassen- und Vernichtungspolitik interpretiert.
Nun ist Aly gewiss nicht der Erste, der zum meinungsstarken Verdammungsurteil über die 68er-Bewegung ausholt. Provozierend, wenn auch ebenfalls nicht neu, ist freilich der umstandslose Vergleich mit der NS-Studentenbewegung: Auch sie habe eine antiautoritäre Revolte gegen die Elterngeneration angeführt, eine umfassende Hochschulreform gefordert und sich dem politischen Utopismus verschrieben. "In der Gemeinschaftsideologie der Achtundsechziger äußerte sich die alte deutsche Angst vor den Unwägbarkeiten der Freiheit. [...] Komplementär dazu äußerte sich in der Versessenheit auf Kampf und klare Fronten die Flucht aus einer komplexen Welt in die elementar vereinfachende Situation des Schützengrabens." (187) Für Aly ist die Studentenbewegung ein sehr deutsches Phänomen, das auf dem unbewältigten Erbe des Nationalsozialismus basierte. Die "aufbegehrenden Neuerer" seien deshalb vorübergehend "zum seitenverkehrten, totalitären Abklatsch des Alten" geworden (200).
Ein intensiverer Blick ins Ausland hätte dieser schrill konstruierten These nur geschadet, weshalb der Leser auch nichts über die zeitweise wesentlich einflussreicheren linksradikalen Organisationen in Frankreich oder die militanten Roten Brigaden in Italien erfährt. Alys irritierter Rückblick beruht auf einer selbstverliebten Nabelschau, die bedenkenswerte Passagen wie maßlose Übertreibungen gleichermaßen enthält, insgesamt aber der ganzen Breite der 68er-Bewegung nicht gerecht wird. Selbst da, wo seine Argumentation greift, trifft sie im Wesentlichen nur auf einen kleinen doktrinären Kern zu. Dass sich Tausende von jungen Leuten damals bei den Jusos, den Jungen Liberalen oder in kirchlichen Studentengemeinden und zahlreichen Initiativgruppen für eine radikaldemokratische Reform der bundesdeutschen Gesellschaft einsetzten, bleibt ebenso ausgeblendet wie die längerfristigen Wirkungen von Pop- und Jugendkultur sowie eines emanzipatorischen Wertewandels, den viele in ihrer Erinnerung ebenfalls mit dem Jahr 1968 verbinden. Aly jedoch scheint nur die kleine, verbissene Welt der K-Gruppen zu kennen - insofern spiegelt sich in dieser verengten Perspektive nur ein autistischer Politikansatz wider, der seinerzeit gleichwohl nicht wenigen als Speerspitze der Revolution galt.
Clemens Vollnhals