Volker Barth: Mensch versus Welt. Die Pariser Weltausstellung von 1867, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2007, 472 S., ISBN 978-3-534-20235-5, EUR 79,90
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Weltausstellungen in Paris finden dann statt, wenn sich die Nation von einer tiefen inneren Krise erholen muss. Die einzige Expo, die eine Ausnahme von dieser Regel darstellt, ist die von 1867, konzipiert und ausgerichtet zu einer Zeit, als die "fête impériale" des Second Empire auf ihrem Höhepunkt war und wenig darauf hindeutete, dass auch dieses Regime nicht von Dauer sein würde. In der Geschichte der Weltausstellungen nimmt diese dennoch einen wichtigen Platz ein: Zum einen markiert Paris 1867 den Punkt, an dem diese sich endgültig von der früheren Form der Warenmesse ab- und dem Konzept der umfassenden Schau zivilisatorischer Errungenschaften zuwandte; zum anderen schuf sie mit der Erfindung der "Nationalpavillons" einen Präsentationsmodus, der bis heute für die Weltausstellungen prägend sein sollte. Den Zeitgenossen scheint die Bedeutung des Ereignisses bewusst gewesen zu sein, das belegen die Besucherzahlen ebenso wie die Masse an Publikationen aller Art, die im Umfeld der Ausstellung auf den Markt kam. In der Geschichtsschreibung hingegen stand die 1867er Ausgabe hingegen zumeist im Schatten ihrer spektakulären Nachfolgerinnen: Zu Unrecht, wie Volker Barth in seiner aus einer Münchener Dissertation hervorgegangenen Studie zeigt.
Die klassische Frage nach den Motiven und Intentionen der Ausstellungsmacher (die oft weit genug auseinander lagen), nach ihren ideologischen Prämissen und nach den Stereotypen, welche die Repräsentationen der "Welt" in den Exponaten der Ausstellung prägten, wird von Barth in zwei Richtungen erweitert: Zunächst betont er das Eigengewicht der Exponate und ihrer Präsentation: Sie entziehen sich von einem bestimmten Moment an der Kontrolle ihrer Erschaffer, lassen sich nicht widerstandslos für die Zwecke der Veranstalter instrumentalisieren. Gleiches gilt für die Besucher: Auch sie versteht Barth nicht als willenlose Adressaten der pädagogischen und ideologischen Absichten der Veranstalter, sondern er betont ihren "Eigensinn" (A. Lüdtke) bei der Rezeption und Aneignung der Exponate: Jeder Besucher, so formuliert es Barth prägnant, "habe seine ihm eigene Ausstellung vorgefunden und durch seine individuelle Interpretation in ihrer Einzigartigkeit festgeschrieben". (29) Auf diese Pluralität verweist letztlich auch der (etwas kryptische) Titel der Arbeit: "Mensch versus Welt" bezieht sich einerseits auf die Ausstellungsmacher und deren hybriden Wunsch, tatsächlich die ganze Welt in einem Mikrokosmos an der Seine abzubilden, auf der anderen Seite aber auch auf die Besucher, die auf dem Marsfeld dieser "ganzen Welt" gegenüberstanden und sich ihren eigenen Weg durch die schier unendliche Zahl der Attraktionen bahnen mussten - und dabei die Ausstellung kreativ weiterentwickelten.
Die Untersuchung ist grob in vier Abschnitte gegliedert, die jeweils zwischen zwei und vier Kapitel umfassen. Barth beginnt mit der Perspektive der Ausstellungsmacher: Dass Napoleon III. die Ausstellung als eine Staatsangelegenheit verstand, zeigt sich bereits an der Tatsache, dass er nahe Verwandte an die Spitze der mit den Vorbereitungen betrauten Kommission setzen ließ: Zunächst seinen Cousin Jérôme ("Plon-Plon"), nach dessen Ausscheiden den (gerade 9-jähigen) Thronfolger Louis-Napoléon. Das operative Geschäft jedoch lag in den Händen zweier Spezialisten: Der katholische Sozialreformer Frédéric Le Play und der Nationalökonom Michel Chevalier, ein Anhänger Saint-Simons, waren die beiden eigentlichen Gestalter der Exposition universelle de 1867, durch sie erhielt sie ihre charakteristische Gestalt. Die Weltausstellung war französisch (in dem Sinne, dass die französische Zivilisation zum Vorbild und Maßstab aller anderen Nationen erklärt wurde) und sie war den Ideen von Vernunft und Fortschritt verpflichtet, deren gegenwärtigen Stand zu dokumentieren sie sich zur Aufgabe machte. Paris war weniger eine industrielle Leistungsschau (wie noch London wenige Jahre zuvor) als vielmehr eine Hymne auf den Fortschritt, es war eine geschichtsphilosophische These, die mit Hilfe der Exponate belegt und durch die zahlreichen volkspädagogischen Angebote zum Allgemeingut gemacht werden sollte.
Wie das im Einzelnen geschah, analysiert Barth im zweiten Teil seiner Untersuchung. Aufmerksam rekonstruiert er das Klassifikationssystem, mit dessen Hilfe die Ausstellungsmacher die Welt und ihre Exponate in eine kohärente Ordnung bringen wollten, und die verschiedenen Strategien ihrer Inszenierung. Er interessiert sich dabei aber auch für die "Leerstellen" der Ausstellung, das, was (so die Kapitelüberschrift) im "Schatten" blieb, durch Selektion, durch die Art der Präsentation, letzten Endes auch durch Zensur: die fehlenden Nationen und Regionen, die die angestrebte Vollständigkeit der "Weltausstellung" unterliefen, Religion (als Gegenpol der "Vernunft") und - ganz allgemein - Konflikt. Die Zivilisation, die auf dem Marsfeld präsentiert wurde, kannte keinen Dissens, keinen Widerstand, keine Kritik, auch keinen Krieg. Waffen (wie etwa die 1.000 Tonnen schwere Krupp-Kanone) wurden zwar als technische Meisterleistungen ausgestellt, ihr Zweck hingegen wurde bei der als "Friedensfest" deklarierten Veranstaltung nicht thematisiert.
In den "Schatten" gehörte also alles das, was der Erfolgsgeschichte des Fortschritts in der "zivilisierten Welt" zu widersprechen schien. Im "Licht" präsentiert wurden hingegen diejenigen Gebiete der Welt, in denen dieses Zivilisationsniveau noch nicht erreicht war: Denn sie dienten gleichsam ex negativo zur Illustration und Erhärtung der Fortschrittsthese.
Zu dem Wunsch der Ausstellungsmacher, ein möglichst klares, einheitliches Bild der "Welt" und ihrer Entwicklung zu präsentieren, gehörte auch der Ehrgeiz, die Rezeption der Ausstellung durch die Besucher einer möglichst weitgehenden Kontrolle zu unterwerfen. Dies musste jedoch eine Utopie bleiben, trotz aller Maßnahmen, die eine "Normalisierung" des Besucherverhaltens (so Barth in Anlehnung an Foucault) sicherstellen sollten. Denn die "Disziplinierung" und "Regulierung" der in die Millionen gehenden Ausstellungsbesucher blieb notwendigerweise begrenzt. Vor allem zwei Faktoren konterkarierten die volkspädagogischen und propagandistischen Absichten der Ausstellungsmacher: der Festcharakter der Expo und der Wunsch nach Rentabilität. Die Expo sollte den Staat so wenig wie möglich kosten; tatsächlich schloss sie sogar mit einem Gewinn von über 3 Mio. Francs ab. Der Preis dafür war aber eine kaum zu zügelnde Kommerzialisierung der Ausstellung. So ließ sich das Verkaufsverbot, das eigentlich für die gesamte Zeit der Ausstellung galt, in der Praxis nicht aufrechterhalten und wurde von vielen Ausstellern auf mehr oder weniger ingeniöse Weise umgangen. Werbung war allgegenwärtig. Zudem boten zahlreiche Subunternehmer auf dem Ausstellungsgelände Dienstleistungen gegen bare Münze an; auch waren einige Ausstellungsteile nur gegen Sonderzahlungen zugänglich. Dem Erfolg der Expo und ihrer Popularität tat dies keinen Abbruch; es veränderte aber ihren Charakter. Barth kann zeigen, dass für viele Besucher der Unterhaltungswert der Ausstellung gegenüber ihrem "Bildungswert" deutlich im Vordergrund stand: Die zahlreichen Restaurants, Theater und Konzerte, die Attraktionen wie Ballonfahrten, Fotoateliers oder ein riesiges Aquarium waren so beliebt, dass die "anspruchsvolle Fortschrittsschau zum belanglosen Freizeitvergnügen ohne moralische Hemmschwelle" verkam (349).
Barth schließt sich diesem pessimistischen Resümee, das gerade auch diejenigen vortrugen, die das ursprüngliche Ausstellungskonzept enthusiastisch begrüßt hatten, weitgehend an und spricht mehrfach vom "Scheitern" des Projektes. Man muss ihm dabei nicht folgen: Denn die Tatsache, dass die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung diese mit "Eigensinn" aneigneten und nicht allen Vorgaben der Ausstellungsmacher folgten, bedeutet nicht zwangsläufig, dass die zentralen Botschaften der Ausstellung bei ihnen nicht angekommen sind. Vieles spricht in den Augen des Rezensenten dafür, dass - anders als es die kulturkritischen zeitgenössischen Beobachter wahrhaben wollten - die Expo durchaus auch ideologisch ihren Zweck erfüllte.
Den grundsätzlich positiven Eindruck der Studie kann dieser Einwand jedoch nicht trüben. Ob man tatsächlich Foucaults Theorie der "Normalisierung" bemühen muss, um die Bemühungen der Veranstalter um den Komfort der Besucher - in Barths Diktion: "die Sorge um den Besucherkörper" (218) - zu erklären, mag dahingestellt bleiben. Grundsätzlich aber hält Barth eine geglückte Balance zwischen Deskription und theoriegeleiteter Analyse (wobei neben Foucault vor allem Paul Ricœur als Stichwortgeber fungiert). Die Arbeit ist dicht belegt, ausgesprochen anschaulich geschrieben und über weite Strecken ein echtes Lesevergnügen. Die Weltausstellung von 1867 hat ihren Biographen gefunden.
Daniel Mollenhauer