Volker Barth: Inkognito. Geschichte eines Zeremoniells, München: Oldenbourg 2013, 358 S., ISBN 978-3-486-72738-8, EUR 29,95
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Mit dem im Oldenburg Verlag erschienen Buch Inkognito. Geschichte eines Zeremoniells legt Volker Barth, Lehrender am Historisches Institut für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität Köln, eine höchst wichtige und von Seiten der Höfe- und Zeremonienforschung lang ersehnte Studie zum Thema des Inkognito vor.
Bereits das umfassende Inhaltsverzeichnis lässt auf eine weitschichtige Abhandlung schließen, die mit einer pointierten Einleitung (Inkognito oder Wie man nicht als König reist, 9-24) eröffnet wird. Barth zeigt hier am Beispiel des Dänenkönigs Frederik VIII., der sich im Dezember 1912 unter dem Namen "Graf Kronborg" in Hamburg aufhielt und dort überraschend verstarb, wie selbstverständlich das adelige Inkognito auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach beinahe den gleichen Mustern wie in den Jahrhunderten zuvor funktionierte. Zu Fixpunkten zählten dabei die Wahl eines hierarchisch vom Geburtsstand abgestuften Pseudonyms, die öffentliche Ankündigung der Persönlichkeit samt "Decknamen", der erklärte Verzicht auf jegliche Öffentlichkeit und die damit verbundenen staatstragenden Zeremonien sowie ein flexibler Umgang mit dem Inkognito. Selbiges diente der Vereinfachung des Umganges von Herrschern miteinander, der Vermeidung von zeremoniellen Konflikten, der Beschleunigung von Reisen und einer wesentlichen Kosten- und Personalreduktion.
Neben der Darlegung des aktuellen Forschungsstandes mit dem deutlichen Hinweis, dass der "befristete Identitätswechsel" (15, 27) bislang wissenschaftlich lediglich am Rande zu Fragen der Etikette und der Reiseforschung besprochen wurde, nimmt der Autor den Begriff Inkognito etymologisch in den Blick. Anhand von Einträgen in historischen Wörterbüchern und Lexika zeigt er überdies quellenbezogen und aus verschiedenen Blickwinkeln dessen vielfältige Bedeutung.
Das erste Großkapitel (Die Genese eines Zeremoniells, 27-97) versucht Vorformen des Inkognito aufzuzeigen. Hier sind es zunächst antike Ansätze (27-35), an deren Beispiel Barth den Identitätswechsel mittels Maske und Kostüm mit der Verkleidung gleichsetzt. Barth macht dies literarisch an Götterverwandlungen und den Abenteuern des Odysseus fest. Er holt hier für seine Ausführung weit aus und entfernt sich zu sehr vom Thema. So erscheint etwa die Verknüpfung mit Jesus von Nazareth (Ankunft des Herrschers, 32-35) in diesem Kontext nicht nachvollziehbar.
Auch im Mittelalter gab es noch kein wahres Inkognito. Als frühe Anklänge gelten das Reise-, Begegnungs- und Besuchszeremoniell, in dem die Aufeinandertreffenden ihren eigentlichen Status ablegten, um Rang- und Etikettstreitigkeiten zu umgehen. Basierend auf der Verknüpfung mit der (spielerischen/ludischen) Verkleidung sieht Barth auch im Turnier, wo "der Ritter [...] seine Identität spielerisch verschleierte [...]" (43) eine Vorstufe. Dieses Urteil erscheint jedoch sehr konstruiert, weil nicht klar wird, worin bei diesem Beispiel das Eintauchen in eine andere Rolle liegt. Schließlich war es für die Turnierbesucher anhand des aufgebrachten Wappens, der Farben und der Heroldsankündigung ohnehin klar, wer sich unter der Panzerung befand.
Der mittelalterliche und neuzeitliche Aspekt - in der vorliegenden Publikation allerdings zu sehr an der Verkleidung festgemacht - wird anhand der Artussage und einiger sehr ausführlicher Schilderungen unterschiedlicher Minneliteratur (chevalereske Literatur, 47) erläutert. Ebenfalls im mittelalterlichen Kontext werden die versteckte Brautschau und die herrscherliche Aufwartung erwähnt, die sich in unveränderter Form bis in die Neuzeit tradierten. In "Verkleidung" traten Fürsten so ihren künftigen Ehefrauen das erste Mal gegenüber, um sie in Augenschein zu nehmen.
Eine Form des Inkognitos der frühen Neuzeit sieht der Autor in Verkleidungsfesten (Maske und Spiel, 78-91), den so genannten Mummereyen, die anhand von Beispielen am englischen Hof erläutert werden (Court masque) und in adaptierter Form bis weit ins 18. Jahrhundert zur Faschingszeit an den europäischen Höfen als "Wirtschaften und Bauernhochzeiten" (85) zelebriert wurden. Hier wäre es angebracht gewesen, die Wurzeln der Mummereyen zur Zeit Kaiser Maximilians I. um 1500 und ihre Rezeption an den Höfen von München, Dresden, Innsbruck und Prag zu berücksichtigen. Nimmt man die Verkleidung und den spielerischen Identitätswechsel als Form des Inkognitos an, so vermisst man in der Abhandlung deren wohl markanteste: den Karneval in Venedig.
Das zweite Kapitel (Die Reglementierung des Inkognito, 100-179) beschäftigt sich mit der konkreten Anwendung des Inkognitos anhand zweier Fallbeispiele der Neuzeit, welche für das bis heute gültige Verständnis richtungsweisend waren: die Große Gesandtschaft Zar Peters des Großen, der Europareise des Romanowfürsten im Jahre 1696/97, sowie den Frankreichbesuch Kaiser Josephs II. von 1777, den er unter seinem üblichen Pseudonym als "Graf von Falkenstein" absolvierte. Diesen Ausführungen vorangestellt wird die Aufnahme des Inkognitos als fixer Bestandteil der fürstlich-adligen Etikette. Barth führt dies geschickt durch Zitierung der zahlreichen zeitgenössischen Zeremonialliteratur aus. Bedauerlicherweise hinterfragt er jedoch bei Julius von Rohrs Einleitung zur Ceremoniel-Wissenschaft in Bezug auf das französische Trauerzeremoniell nicht den Irrtum der schwarzen Auskleidung (147), war doch Violett bis zum Ende des Ancien Régime die tatsächliche Trauerfarbe.
Die detailliert und lebhaft beschriebenen Beispiele (Zar Peter I. und Kaiser Joseph II.) machen deutlich, dass das Inkognito u.a. die Reduzierung des Zeremoniells und der anfallenden Kosten bezweckte und flexibel anwendbar war. Es wurde zumeist von hochstehenden Adeligen genutzt, die unter einem anderen Character und Nahmen auftraten und einen Titel wählten, der gegenüber ihrem eigentlichen hierarchisch geringer war (143). In einem Ausblick liefert Barth auch den Hinweis, dass das vormals dem Hochadel vorbehaltene Inkognito im Laufe des (bürgerlichen) 18. Jahrhunderts von weiteren Gesellschaftsschichten, vor allem im Zuge von obligatorischen Bildungsreisen, angewandt wurde.
Das dritte Kapitel (Das Inkognito im Hause Wittelsbach) widmet sich dem 19. Jahrhundert, in welchem das Inkognito durch das moderne Beförderungsmittel der Eisenbahn, einem veränderten, weil gesteigertem Reiseverhalten und den politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen (Revolution, Attentate) der Zeit angepasst und damit gleichsam bedeutend gemacht wurde. Diesen Umstand skizziert Barth ausführlich anhand von Reisebeispielen der bayerischen Könige Ludwig I., Maximilian II. und Ludwig II. Herausgearbeitet werden die Inkognitomodalitäten Ludwigs II. bei seiner Frankenrundreise 1866/67, seinem Parisbesuch unter dem Pseudonym "Graf von Berg" anlässlich der Weltausstellung 1867 und bei Schweizer Kurzvisiten. Zu detailliert - und am Arbeitsthema vorbei - fällt die Beschreibung des Versailles-Besuches Ludwigs II. aus (Verbotenes Versailles, 251-260).
Einige historische Ungenauigkeiten, die seitens des Lektorats leicht gelöst werden hätte können, trüben unnötigerweise den Gesamteindruck. So werden Kaiser Joseph II. und seine Mutter Maria Theresia als "habsburgischer Kaiser" bzw. "Kaiserin" und Joseph II. an anderer Stelle als "Kaiser von Österreich" tituliert (155, 163, 178). Ebenso ist die Bezeichnung der Madame Adelaide, mit der Joseph II. in Versailles 1777 zusammentraf, als königliche Hofdame unrichtig, handelte es sich doch um eine Tochter König Ludwigs XV. (161). Napoleon III. sollte als "Kaiser der Franzosen" (224, 226) und Leopold I. als "König der Belgier" bezeichnet werden (227). Als Gastgeber in Innsbruck anlässlich der Kurzvisite des jungen Ludwigs II. 1854 kann nicht Erzherzog Ferdinand II. fungiert haben (206), da dieser von 1564 bis 1595 Tiroler Landesfürst war.
Gelungen ist das umfangreiche und übersichtlich gestaltete, vielfältige und reichhaltige Quellen- und Literaturverzeichnis (317-348), welches "Quellen", "Zeitungen", "Gedruckte Quellen" und "Literatur" unterteilt und dem sich ein brauchbares Register anschließt (349-358). Gewinnbringend für den Leser sind auch die pointierten Zusammenfassungen am Ende jedes Großkapitels.
Die flüssig geschriebene und gut formulierte Publikation ist mit einem überschaubaren Anmerkungsapparat in Kurzzitaten versehen, der in vernünftigem Maß weiterführende Informationen beinhaltet. Zitate werden geschickt in den Fließtext durch Schriftverkleinerung und optisches Absetzen eingearbeitet. Die vorliegende Arbeit kann als gelungen bezeichnet werden und der Verdienst des Autors liegt in der erstmaligen Aufarbeitung eines bislang wissenschaftlich nur am Rande behandelten Themas der Zeremonialwissenschaft. Barth zeigt anhand ausgewählter Fallbeispiele, die mehr oder weniger aus der einschlägigen Literatur bekannt sind, konzentriert und minutiös die historische Entwicklung sowie die Anwendung des Inkognitos in der jeweiligen Adaption auf.
Thomas Kuster