Tom Reiss: Der Orientalist. Auf den Spuren von Essad Bey. Übersetzt von Jutta Bretthauer, Berlin: Osburg Verlag 2008, 472 S., 26 Abb., ISBN 978-3-940731-05-0, EUR 25,90
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Der Fall der Berliner Mauer zeitigte eine neue Lage: Nahosthistoriker konnten jetzt auch Archive der anderen Seiten erkunden und die Beziehungsgeschichten zwischen Amerika, Mittelost und Europa in multiple Ebenen rücken. Aber dieses ost-west-südliche Mosaik betraf nicht nur die Ära der deutschen Zweistaatlichkeit. Sondern ermittelbar wurde eben die Tiefe jener Beziehungen seit der deutschen Reichsgründung. Und Berlin stieg hierbei zum Mekka der Archive auf, die dort neu geordnet worden sind. [1] Da nun der Kalte Krieg zur Fußnote absackte, rückten gleichwohl die global komparativen Themen ins Zentrum.
Davon profitierte eine Gruppe von Forschern um Gerhard Höpp am Zentrum Moderner Orient, die zuvor im akademischen Dreieck Berlin-Halle-Leipzig wirkten. Endlich war es ihnen möglich, "Lebensläufe zwischen den Kulturen" von solchen historischen Akteuren wie Essad Bey - der nämliche "Orientalist" - zu erkunden. Sein Schicksal war ja nicht nur dieser Gruppe aufgefallen, wofür kurz nach der deutschen Einheit eine Neuauflage seines Werkes über den Propheten Muhammad sprach. [2] Also machte sich Höpp auf eine Suche, die ihn über Europas Grenzen hinaus führte. Zwischenergebnis war sein Schlüsselaufsatz über Essad Bey [3]; das Ziel dessen Biographie. Vor dem Millenium las er noch den Artikel von Tom Reiss über Essad Bey. [4] Freilich durchkreuzte das so vorzeitige Ableben Höpps ( http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/GerhardHoeppPDF300104OrientHamburg.pdf ), die Essad-Biografie zu vollenden. Zweifellos hätte ihn das vorliegende Buch sehr erfreut.
Denn Tom Reiss weiß nicht nur packend zu erzählen. Dieser Autor - ein investigativer New Yorker Reporter auch in der Berliner Tradition der 1920er Jahre - hat gut mit Höpp kooperiert und diverse Arbeiten des Gelehrten mit einfließen lassen. Natürlich hat er auf seinen weiten Reisen und verschlungenen Pfaden viel eigenständig entdeckt und manche historische Dimension hinzu gefügt. Hierbei entwirft er überaus faszinierende Bilder des transkulturellen Essad Bey, der stets vor den roten, weißen und schwarzen Revolutionen des frühen 20. Jahrhunderts und vor seinem Ich geflüchtet ist. Welch ein Leben. Und was für ein hinreißendes Portrait, das heute den Leser bis zur letzten Seite zu fesseln vermag. Wenn es uns etwas lehrt, dann auch, wie man Geschichte auf einem goldenen Mittelweg zwischen akademischer Gelehrsamkeit und Popularität völlig ergreifend darstellen kann.
Reiss lotet das Leben des Essad Bey aus: im Revolutionsjahr 1905 in Baku geboren, war dessen Vater Abraham Nussimbaum ein Ölmillionär und die Mutter Revolutionärin. So lernte der heranwachsende Lev Nussimbaum gar Stalin kennen, der noch sein Unwesen im Kaukasus trieb. Das rote Ungeheuer trieb die jüdische Familie in die Flucht, die bald zwischen alle Fronten geriet. Levs Mutter beging Selbstmord. Er selbst, ein so behüteter, mithin sehr isolierter Junge aus gutem Hause, lernte die Grausamkeit des Bürgerkrieges kennen. Er liebte es, sich als muslimischer Prinz auszugeben und demgemäß zu kleiden.
Vater und Sohn gelangten alsbald in das altvertraute Deutschland [5], wo Lev ab 1922 auch Kurse in Arabisch und Türkisch am Berliner Seminar für Orientalische Sprachen belegte. Er stieg zum Medienstar für Mittelasien in der Weimarer Republik auf. War er ein echter Orientalist? Nein, im engeren Sinne nicht (kein Referenzwerk für Orientalisten führte ihn einst an). Als Orientalist galt ein Gelehrter, der neben der Kenntnis von wenigstens zwei Regionalsprachen auch orientalistische Fächer wie zum Beispiel Arabistik studierte und diese in Forschung und Lehre vertrat. Aber im weiteren Sinne mag man Orientalist gelten lassen, zumal neuerdings wieder Architekten, Musiker und Maler so bezeichnet werden. [6]
Damals bildeten im Orient gebürtige Orientalisten wie Lev die Ausnahme. Heute, mit der globalen Migration, gehören sie in Amerika, Europa sowie Australien bereits zum Alltag.
Lev war im damaligen Sprachgebrauch eher ein K.d.O., ein "Kenner des Orients". Diese kamen insbesondere vor, im und nach dem Ersten Weltkrieg auf: im Zug der offiziellen Berliner Islampolitik, die Kaiser Wilhelm II. mit seiner Reise in das Heilige Land 1898 eingeleitet hatte. Unter ihnen gab es so genannte Asienkämpfer, die dann während des Zweiten Weltkriegs das erprobt haben, was sie einst verfehlt hatten. Man denke an Fritz Grobba, Werner Otto von Hentig, Franz von Papen, Joachim von Ribbentrop, Oskar Ritter von Niedermayer und Harun ar-Raschid. Dieser konvertierte wie Lev zum Islam. Doch anders als Lev war dieser ein Deutscher (Wilhelm Hintersatz): ein erster Euromuslim in beiden Weltkriegen.
Freilich wurden nur wenige K.d.O. so bekannt wie Lev, der Anfang der 1930er Jahre als Essad Bey und Kurban Said auftrat, von seinen Memoiren "Öl und Blut im Orient" über seine Biografien Stalins, Mohammeds und Reza Schahs bis hin zu seinem Liebesroman "Ali und Nino". Levs besondere Tragik ergab sich daraus, dass es ihm zwar gelang, vor den Nazis nach New York zu emigrieren. Aber dort wurde er nicht so recht heimisch und ging nach Rom in der Hoffnung, eine Biografie Mussolinis schreiben zu können. Er lebte schließlich ab 1938 in Positano an der Amalfiküste, wo er vier Jahr später völlig verarmt an einer unheilbaren Krankheit verstarb. Zum Glück gelang es Tom Reiss, dessen letztes, auf dem Todesbett geschriebenes Manuskript zu erlangen. "Der Mann, der nichts von der Liebe verstand" erhellt noch einmal Levs Größe und Tragik, die unheimlich aktuell sind. [7]
Levs Kühnheit entsprang seiner Lebenserfahrung und Leidenschaft. Und seine Irrtümer teilte er mit vielen Zeitgenossen: Mussolinis Faschisten und Hitlers Nazis würden schon bald eine Bolschewisierung Europas verhindern; wenn sie sich denn überhaupt länger an der Macht hielten, dann wäre ihre Judenfeindschaft das kleinere Übel, das man halt mit in Kauf nehmen müsse. Wie sich zeigte, geriet der rassistische Hass auf bestimmte Gruppen von Menschen unteilbar. Ihm fiel alsbald Lev selbst durch eine gewisse Gleichschaltung Italiens mit Hitler-Deutschland ab 1938 zum Opfer. Aber es kam schlimmer. Levs Vater wurde 1941 von Wien wohl nach Treblinka gebracht und dort getötet. Eine in den Wirren der roten, weißen und schwarzen Revolutionen in Europa ausgelöschte Familie. Von ihr zeugen nur noch zahlreiche Texte von und über Lev - mit seiner transkulturellen Idenität.
Obzwar Reiss zu wenig Berlins Islampolitik vor und in beiden Weltkriegen sowie Hitlers frühe Texte wie "Mein Kampf" beachtet, woraus gar manche, anderenorts zu erörternde Fragen zur Diskussion aufkommen, so ist sein Buch wärmstens als Lektüre für alle jene zu empfehlen, die komparative Geschichten von Amerika, Mittelost und Europa im 19. und 20. Jahrhundert ergründen. Kurz, es ist glänzend recherchiert und gleichwohl erzählt.
Anmerkungen:
[1] Gerhard Höpp, Norbert Mattes (Hrsg.): Berlin für Orientalisten (http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/Norbert%20Mattes%20Archive%20 Berlin%20 Christof%20Mauch%20Americana.pdf ). Ein Stadtführer. Berlin 2001.
[2] Vgl. meine Besprechung: Essad Bey ( http://www.trafoberlin.de/pdf-Neu/Essad%20Bey%20Mohammed.pdf ): Mohammed. München: Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1993, in: Comparativ (http://www.uni-leipzig.de/comparativ/index.php?option=com_content&task=view&id=86&Itemid=29 ), Leipzig, 3(1993)6, 128-131.
[3] Gerhard Höpp: Mohammed Essad Bey: Nur Orient für Europäer? In: Asien, Afrika, Lateinamerika, Berlin 25(1997)1, S. 75-97; vgl. Gerhard Höpp: Mohammed Essad Bey oder Die Welten des Lev Abramovic Nussenbaum, in: Essad Bey: "Allah ist groß". Niedergang und Aufstieg der islamischen Welt. München: Matthes & Seitz Verlag 2002, S. 385-414.
[4] Tom Reiss: The Man From The East, in: The New Yorker, New York, 04.10.1999, S. 68-83; vgl. auch Gerhard Höpp: Biographien zwischen den Kulturen: Asis Domet ('Azīz Dumit) und Mohammed Essad, in: Henner Fürtig (Hg.): Islamische Welt und Globalisierung. Würzburg: Ergon Verlag 2001, S. 149-157.
[5] Eva-Maria Auch: Öl und Wein im Kaukasus. Deutsche Forschungsreisende, Kolonisten und Unternehmer im revolutionären Aserbaidschan, Wiesbaden 2001.
[6] Kristian Davies: The Orientalists (http://www.trafoberlin.de/pdf-dateien/Schwanitz_neu/Kristian%20Davies%20Muhammad%20Immara%20 Orientalists.pdf). Western Artists In Arabia, The Sahara, Persia And India, New York 2005.
[7] Tom Reiss stellt dieses Manuskript (Notizbücher) Lev Nussimbaums in das Internet. Zu den ersten drei Bänden vgl. http://www.tomreiss.info/
Wolfgang G. Schwanitz