Sönke Lorenz / Andreas Meyer (Hgg.): Stift und Wirtschaft. Die Finanzierung geistlichen Lebens im Mittelalter (= Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde; Bd. 58), Ostfildern: Thorbecke 2007, VII + 232 S., ISBN 978-3-7995-5258-5, EUR 34,90
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Allzu lang regelrecht vernachlässigt, hat die Erforschung mittelalterlicher Stiftskirchen, ihrer Phänomenologie und Typologie, in jüngerer Zeit grundlegende Einsichten vor allem einer Reihe von Arbeiten Peter Moraws und Irene Crusius' zu verdanken. Von Alfred Wendehorst und Stefan Benz stammt das erste Verzeichnis aller Säkularkanonikerstifte der Reichskirche, das - 1994 als Zeitschriftenbeitrag und 1997 als Monographie erschienen - längst als unentbehrliches Hilfsmittel für Kirchen- und Landeshistoriker gelten kann. Und schließlich verfolgt seit mehr als einem Jahrzehnt das von Sönke Lorenz in Tübingen betriebene Stiftskirchenprojekt das ehrgeizige Ziel, entsprechende Institutionen in einem überschaubaren Raum - dem Land Baden-Württemberg - nach Art eines Handbuchs zu erfassen und darzustellen. Der Vorbereitung dieses Kompendiums dienten mehrere Tagungen im oberschwäbischen Weingarten, bei denen zentrale Aspekte des Stiftskirchenwesens im überregionalen Kontext erörtert wurden: Aufgaben und Perspektiven der Forschung (2000), Archäologie und Kunstgeschichte (2001), Schule (2002), Frömmigkeit und Spiritualität (2003) sowie zuletzt die ökonomische Seite geistlichen Lebens (2004).
Die wirtschaftlichen Verhältnisse von Stiftskirchen eingehender zu würdigen, erscheint schon deshalb angebracht, weil aus ihrer Handhabung der bei weitem größte Teil der stiftischen Schriftgutüberlieferung erwachsen ist. Nicht von ungefähr bieten herkömmliche Stiftskirchenmonographien - dankenswerterweise - neben Namenslisten von Dignitären und Kanonikern oft umfangreiche Kataloge des geistlichen Herrschafts-, Grund- und Rentenbesitzes. Immerhin waren Stifte ebenso wie Klöster nicht zuletzt Wirtschaftsbetriebe und Kreditinstitute, in wirtschaftlicher Hinsicht vergleichend betrachtet wurden sie bislang aber noch nicht.
Anliegen der Weingartner Tagung über Stift und Wirtschaft und des auf ihr beruhenden, hier anzuzeigenden Aufsatzbandes ist es, elementar einschlägige Fragen vor einem weiteren Horizont zu erörtern. Im Vordergrund des Interesses stand dabei das seit dem hohen Mittelalter allenthalben herrschende Pfründenwesen, durch das sich die weltlichen Kollegiatstifte grundlegend von klösterlichen Gemeinschaften unterschieden, und die interne Verteilung der zur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen - also eigentlich eine verfassungsgeschichtliche Thematik. Zur Herausbildung einzelner Pfründen an Stiftskirchen und zur Festschreibung ihrer Zahl kam es, wie Andreas Meyer darlegen kann, im Übergang vom 12. zum 13. Jahrhundert, nachdem bereits seit dem 9. Jahrhundert separate Kapitelsvermögen entstanden waren, um damit das Problem der häufigen Abwesenheit von Kanonikern in den zu Griff zu bekommen. Am Beispiel der Stifte in der Würzburger Diözese schildert Enno Bünz Entstehung und Funktion der so genannten Obleien oder Obödienzen, eines weiteren Komplexes stiftischer Sondervermögen, der zumeist in Jahrtagstiftungen wurzelte. Obleien dienten als Zulagen auf die Pfründen vollberechtigter Kapitularkanoniker, wurden aber nicht als deren Bestandteil angesehen und waren oft einträglicher als die Pfründen selbst; überdies konnte im Kreis der Mitkapitulare mit ihnen gehandelt werden. Im westfälischen Kanonissenstift Geseke (Daniel Berger) gelangte die Gütertrennung zwischen Äbtissin und Kapitel erst in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhundert zum Abschluss, jedoch gab es dort weder Einzelpfründen noch Obödienzen, vielmehr wurden die Einkünfte gleichmäßig unter den Konventualinnen verteilt; dabei begünstigte die Monetarisierung der Präbenden die Auflösung der Klausur und des gemeinschaftlichen Lebens. Dazu fügt sich auch die Beobachtung Elsanne Gilomen-Schenkels, wonach es in Interlaken (und im Fall adliger Frauen vielfach auch andernorts) üblich war, die ins Kloster geschickten Töchter mit privatem Besitz auszustatten, der erst nach deren Tod als Jahrzeitstiftung an das Kloster fiel. Hinsichtlich der Pfarrpfründen im Bistum Ratzeburg steht aus dem 14. und 15. Jahrhundert eine besonders gute Überlieferung zur Verfügung, die die wirtschaftliche Bedeutung der Oblationen einmal mehr unterstreicht (Stefan Petersen). Die Vermehrung der für ein Stift verfügbaren Pfründen mittels Inkorporation von Pfarrkirchen und die damit verbundenen Pflichten in der Seelsorge schildert Stefanie Albus am Beispiel des Prämonstratenserstifts Adelberg.
Stiftitsche Wirtschaft im weiteren Sinn wird in den vier übrigen Beiträgen thematisiert: Helmut Flachenecker macht deutlicht, dass die Stifte der Prämonstratenser den Klöstern der Zisterzienser hinsichtlich innovativer landwirtschaftlicher Nutzungsformen durchaus ebenbürtig waren, allerdings wussten sie das Instrument des marktorientierten Stadthofs nicht ganz so effektiv zu handhaben. Einzelnen Stiften und ihren Wirtschaftsformen widmen sich Martin Mundorf (Oberhofen in Göppingen), Sabine Beate Reustle (Backnang) und Gregor Egloff (Beromünster). Dabei kommen mehr oder minder ausführlich alle einschlägigen Aspekte zur Sprache: Besitzstruktur, Besitzverteilung und Besitzverwaltung, Erfolg und Krise. Nicht zuletzt wird deutlich, dass Stifte gewöhnlich gar keine einheitlichen Wirtschaftsbetriebe waren, sondern - wiederum wie Klöster - aus mehreren separaten Güterverwaltungen und Kassen bestanden: in Backnang aus der Fabrik, der Präsenz, der Küsterei und der Kellerei, in Beromünster aus dem Keller-, dem Kammer-, dem Bau- und dem Säckelamt. Beromünster ist auch ein Beispiel dafür, dass Stifte nicht allein kulturell und politisch, sondern auch wirtschaftlich "enorm erfolgreich" sein konnten - vor allem dann, wenn die internen Kontrollmechanismen funktionierten.
Schließlich gibt Oliver Auge eine nach Erwartungen, Erträgen und Desideraten gegliederte Zusammenfassung. Wenn er dabei die am Ende offen gebliebene Frage nach einer spezifisch stiftischen "Wirtschaftspolitik" aufwirft, möchte man obendrein wissen, ob und inwieweit es strukturelle Unterschiede zwischen stiftischen, klösterlichen und adligen Besitzkomplexen gab und wie diese gegebenenfalls bedingt waren. Zumindest in ihrer Funktion als "Kreditkassen" für den gemeinen Mann scheint den Stiften vielfach eine Sonderrolle zugekommen zu sein, die aber in Weingarten bedauerlicherweise nicht eigens zur Sprache kam. Zu guter Letzt hätte man dem Band eine beherzter zupackende Redaktion gewünscht, denn manche der Beiträge sind von ärgerlichen stilistischen und grammatikalischen Schwächen durchzogen. Dass dergleichen heute auch anderwärts immer mehr überhand nimmt, darf in der wissenschaftlichen Literatur nicht zu falscher redaktioneller Nachsicht verleiten. Gleichwohl: ein anregendes und in mancher Hinsicht auch grundlegendes Buch.
Kurt Andermann