Jens Kroh: Transnationale Erinnerung. Der Holocaust im Fokus geschichtspolitischer Initiativen, Frankfurt/M.: Campus 2008, 266 S., ISBN 978-3-593-38598-3, EUR 32,90
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600 Teilnehmer aus 46 Ländern, mehr als 20 Staats- und Regierungschefs, 1,6 Millionen Euro Kosten. Jeder Historiker, der schon einmal an einer Konferenz teilgenommen hat, wird angesichts dieser Zahlen über das "Stockholm International Forum on the Holocaust" verwundert den Kopf schütteln: Das soll eine Fachtagung gewesen sein? Doch in der Tat fand im Januar 2000 in der schwedischen Hauptstadt ein derartiges Symposion statt, das von rund 900 Journalisten aus aller Welt beobachtet wurde. Freilich interessierten sich die Medienvertreter weniger für die Wissenschaft als vielmehr für die Statements der Politiker. Dennoch fiel vor allem dank der großen öffentlichen Resonanz der Startschuss für eine internationale Kooperation auf den Feldern öffentliches Gedenken und Geschichtsvermittlung.
Jens Kroh widmet sich in seiner 2006 in Gießen (Graduiertenkolleg "Transnationale Medienereignisse von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart") abgeschlossenen und von Claus Leggewie betreuten politikwissenschaftlichen Dissertation der Entstehung von transnationalen Öffentlichkeiten sowie der Erinnerungskultur als Politikfeld. Die Stockholmer Konferenz des Jahres 2000 ist Krohs zentraler Untersuchungsgegenstand, gilt sie doch zugleich als Schlüsselereignis und Ausdruck für die politische Transnationalisierung der Erinnerung an den Holocaust. Gleichwohl war die dortige Tagung nur möglich, weil sie auf einem Prozess der kulturellen beziehungsweise medialen Transnationalisierung fußte. "Stockholm" kommt in diesem Zusammenhang zentrale Bedeutung zu, weil dort Wissenschaftler und Politiker den Versuch unternahmen, die Deutungsmacht über das Thema "Holocaust" von den Medien zurückzugewinnen, und zwar mit deren Hilfe. Zugleich war das Treffen auch Ausdruck und Katalysator einer trans- und internationalen Normierung des Geschichtsverständnisses, mit dem der Holocaust als zentrale Negativreferenz eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses etabliert werden sollte.
In einem sorgfältigen Überblick legt Kroh zunächst den Forschungsstand zur transnationalen Holocaustrezeption dar. Die anschließende definitorische Erkundung des Begriffs "Ereignis" erscheint demgegenüber theoretisch überzogen. Die Untersuchung des Stockholmer Treffens muss nicht notwendigerweise damit begründet werden, dass es sich dabei um ein Ereignis handelte; eine solche Feststellung hätte als Eingangsvoraussetzung vollkommen ausgereicht. Das gilt umso mehr, als die Quellengrundlage der Arbeit im Wesentlichen aus Konferenzprotokollen und Interviews mit dort anwesenden Akteuren besteht. Methodische Überlegungen folgen auch im nächsten Kapitel, das den Problemkreis Öffentlichkeit, Erinnerung und Politik zum Gegenstand hat. Darüber hinaus geht Kroh der Transnationalisierung des Holocaust als globalem Erinnerungsort nach, wählt dabei jedoch vornehmlich die deutsche Perspektive, die dann mit dem Ausland verglichen wird. Seine Einschätzungen überzeugen fast immer, etwa wenn er es hauptsächlich den amerikanischen Bemühungen zuschreibt, dass die Ermordung der Juden nicht länger nur als beschämende Erfahrung gegenüber dem Gedenken an Widerstand und Heldenmut zurücktritt. Es bleibt kritisch lediglich anzumerken, dass nur in seltenen Fällen auf einschlägige Spezialstudien verwiesen wird.
Die souveränen methodischen Vorüberlegungen und die Ausführungen zum Holocaust als internationalem Erinnerungsort erfolgen auf der Basis vorhandener Forschungen. Die eigentliche Analyse der Stockholmer Tagung bleibt auf rund 90 Seiten beschränkt, zu denen weitere 30 kommen, die der "Task Force for International Cooperation on Holocaust Education, Remembrance and Research" (ITF) gelten. Kroh beschreibt den Holocaust als Gegenstand der internationalen Politik im Vorfeld der Tagung ab etwa 1995 und geht länger auf die schwedische Regierung von Premier Göran Persson als Initiator der Konferenz ein. Sie hatte nicht nur 1997 das Projekt "Levande Historia" begonnen, sondern bereits 1998 die USA und Großbritannien zu einem "Meeting on the Holocaust" geladen. Der Auslöser hierfür war jedoch weniger der Gang der transnationalen Erinnerungskultur, als vielmehr die Entschädigungsdebatte um Raubgold und Zwangsarbeit, in der sich Schweden eine günstige Ausgangslage verschaffen wollte. In diesem Zusammenhang charakterisierte der Journalist Felix Müller die damaligen Vorgänge in der "Neuen Zürcher Zeitung" treffend als "Wettbewerb" um die "Anerkennung" des amerikanischen Unterhändlers Stuart Eizenstat (106).
Die 1998 erfolgten trilateralen Absprachen waren wegweisend für die Konferenz zwei Jahre später: Yehuda Bauer firmierte als Regierungsberater und das U.S. Holocaust Memorial Museum übernahm maßgebliche informationelle Aufgaben. Kroh weist darauf hin, dass es nur auf diese Weise möglich war, die große Tagung im Jahre 2000 zu organisieren, bei der auch Israel und Deutschland am Tisch saßen. Als problematisch erwies sich für die Veranstalter die Frage nach der optimalen Verbindung von Wissenschaft und Politik. Doch da letztlich eine tragfähige Vereinbarung über den Fortgang von Erinnerung und Erziehung verabschiedet wurde, erfüllte "Stockholm" seinen Zweck, obwohl der wissenschaftliche Part der Konferenz rein zeitlich hinter den anderen Programmpunkten zurücktrat und auch kaum die Aufmerksamkeit der Medienvertreter weckte. In der Abschlusserklärung bekannten sich die Teilnehmerstaaten unter anderem dazu, auch künftig des Genozids an den Juden zu gedenken, dafür die internationale Abstimmung zu suchen und zudem die wissenschaftliche Erforschung dieses Menschheitsverbrechens zu fördern. In diesem Zusammenhang erführe man gerne mehr über die deutsche Position, die indes nicht speziell betrachtet wird, obwohl das "Land der Täter" für diesen Referenzrahmen einer gesamteuropäischen negativen Erfahrung eine ganz eigene Interpretation vornehmen muss.
Rückblickend betrachtet war die Stockholmer Konferenz ein voller Erfolg. Bis 2004 fanden zudem drei Nachfolgekonferenzen statt, die allerdings bei Weitem nicht die Medienresonanz der ersten Tagung fanden. Sie hatten trotz der Anwesenheit zahlreicher hoher Beamter und Minister eher den Charakter von Fachtagungen, doch trug gerade dies zum produktiven Arbeitsklima bei. Leider nutzt Kroh die zahlreichen von ihm geführten Interviews nicht für eine Rezeptionsgeschichte oder exemplarische Darstellungen und verschenkt damit einen Teil seines Quellenpotenzials. Dieses Manko gilt auch für die Darstellung der ITF, die Kroh für noch wichtiger als die Tagungen hält. Der Arbeitsgruppe stand bis 2006 Yehuda Bauer vor, dann Dina Porat. Ihre Mitglieder treffen sich zweimal jährlich und koordinieren die Arbeit von Wissenschaft, Museen und Einrichtungen politischer Bildung. Geprägt wird die ITF nach wie vor von den Gründungsstaaten Deutschland, Großbritannien, Israel, USA und Schweden, die zahlreiche Experten entsenden, sich untereinander absprechen und viel Erfahrung in Kommissionsarbeit mitbringen.
Insgesamt darf daher die Bedeutung des Medienereignisses "Stockholm" für die politische Formung eines europäischen Geschichtsbildes vor dem Hintergrund des Holocaust nicht unterschätzt werden. Jens Kroh hat mit seiner Dissertation nicht nur diese Tagung untersucht, sondern eine gründliche Arbeit zum transnationalen Gedenken an den Holocaust in der jüngsten Vergangenheit vorgelegt. Seine Studie über die Stockholmer Konferenz, ihre Vorgeschichte und ihre Nachwirkungen kann trotz ihres sehr speziellen Gegenstands uneingeschränkt empfohlen werden. Kleinere Wermutstropfen, wie etwa das Fehlen eines Registers, trüben das Bild nur unwesentlich.
Stephan Lehnstaedt