Kristin Platt: Bezweifelte Erinnerung, verweigerte Glaubhaftigkeit. Überlebende des Holocaust in den Ghettorenten-Verfahren, München: Wilhelm Fink 2012, VIII + 518 S., ISBN 978-3-7705-5373-0, EUR 69,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Jan Eckel / Claudia Moisel (Hgg.): Universalisierung des Holocaust? Erinnerungskultur und Geschichtspolitik in internationaler Perspektive, Göttingen: Wallstein 2008
Jörg Osterloh / Clemens Vollnhals (Hgg.): NS-Prozesse und deutsche Öffentlichkeit. Besatzungszeit, frühe Bundesrepublik und DDR, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2011
James E. Young: Nach-Bilder des Holocaust in zeitgenössischer Kunst und Architektur. Aus dem Amerikanischen von Ekkehard Knörer, Hamburg: Hamburger Edition 2002
Linda Lucia Damskis: Zerrissene Biografien. Jüdische Ärzte zwischen nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung, München: Allitera 2009
Martin L. Davies / Claus-Christian W. Szejnmann (eds.): How the Holocaust Looks Now: International Perspectives, Basingstoke: Palgrave Macmillan 2007
Barbara Epstein: The Minsk Ghetto 1941-1943. Jewish Resistance and Soviet Internationalism, Oakland: University of California Press 2008
Andrea Rudorff (Bearb.): Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Bd. 16: Das KZ Auschwitz 1942-1945 und die Zeit der Todesmärsche 1944/45, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2018
Warum bespricht ein Historiker eine sozialwissenschaftliche Dissertation, die sich mit der Aussagepsychologie von Holocaustüberlebenden vor deutschen Sozialgerichten beschäftigt? Die Antwort lautet: Wie Kristin Platt war der Rezensent in Ghettorentenfällen für die Sozialgerichte als Gutachter tätig. Während er die Beschäftigungssituation der Juden in nationalsozialistischen Ghettos erläuterte, war die Autorin der vorliegenden Untersuchung dafür zuständig, Aussagen von Überlebenden auf ihren Gehalt hin zu beurteilen - in beiden Fällen ging es darum, für die richterliche Entscheidung, ob im konkreten Einzelfall eine Rente aus der deutschen Sozialversicherung für die Arbeit in einem Ghetto gezahlt werden müsse, wissenschaftlich gesicherte Informationsgrundlagen bereitzustellen.
Die Ghettorenten wurden mit dem 2002 verabschiedeten Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) eingeführt. Das Gesetz verallgemeinerte den Rentenanspruch, den sich 1997 eine Holocaustüberlebende vor dem Bundessozialgericht erstritten hatte. Sie hatte im Ghetto Lodz als Näherin gearbeitet und argumentiert, dass ihr gemäß der auch im Warthegau gültigen Reichsversicherungsordnung für die selbst gewählte und entlohnte Arbeit Rentenzahlungen zustünden. Gutachten waren vor allem deswegen notwendig, weil die rund 70.000 Antragsteller - allesamt hoch betagte Überlebende des Holocaust - gegenüber den deutschen Rentenversicherern beinahe nie ihre Ansprüche erfolgreich geltend machen konnten und deshalb oft ihr Recht vor Gericht suchten. Auch dort standen ihre Chancen zunächst sehr schlecht, aber einige wenige Richter waren immerhin der Ansicht, dass angesichts der hochkomplexen Materie zusätzliche Fachkompetenz nicht schaden könne. Und so wurden zuerst insgesamt rund 25 Historiker damit betraut, die Arbeitsbedingungen in Ghettos darzustellen, und später dann zusätzlich Sozialwissenschaftler gewonnen, die bei etwa 100 Anhörungen von Klägern zugegen waren und dem Gericht beratend zur Seite standen.
Kristin Platt, die stellvertretende Leiterin des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung der Universität Bochum, war eine von diesen Sozialwissenschaftlerinnen, die ab 2008 die Anhörungen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Israel begleitete. In ihrem Buch beschäftigt sie sich mit der Frage, warum die ehemaligen Ghettoarbeiter so große Schwierigkeiten hatten, in Deutschland Gehör zu finden: Noch bis Juni 2009 wurden rund 90 Prozent aller Anträge auf eine Rentenzahlung abgelehnt, weil einerseits das aktuelle Sozialrecht schwer auf die Unrechtsbedingungen nationalsozialistischer Ghettos anwendbar ist, und andererseits Justiz und Verwaltung die Darstellungen der Überlebenden meist nicht für plausibel und glaubwürdig hielten.
Platt interessiert sich besonders für letzteren Aspekt und untersucht den Umgang von Exekutive und Judikative mit den ZRBG-Antragstellern. Dabei verfolgt sie einen interdisziplinären Ansatz, der Ergebnisse von Geschichtswissenschaft, Jura und Sozialpsychologie heranzieht. Ausführlich untersucht sie, welche Aussagefragmente für die Entscheidungen der Sozialgerichte zusammengetragen und wie sie bewertet wurden. Dafür werden Angaben aus Fragebögen, Antragsformularen, Entschädigungsverfahren, Anhörungen und eidesstattliche Erklärungen ausführlich betrachtet und einer methodischen Reflexion unterzogen, die aussagepsychologische Erkenntnisse genauso wie theoretische Konzepte von Luhmann oder Foucault verwendet und die auch und gerade für Historiker unter dem Gesichtspunkt der Quellenkritik sehr instruktiv ist.
Quellenkritik aber haben Verwaltung und Justiz nur in vollkommen unzureichendem Maße geübt und stattdessen "Antragspersönlichkeiten" erst durch ihre Kompilation von Daten aus fünf Jahrzehnten konstruiert - und dabei ähnliche Argumente zur vorgeblichen Unzuverlässigkeit der Überlebenden gebraucht, wie das in der Bundesrepublik bereits in den 1950er Jahren der Fall gewesen ist. Nicht berücksichtigt wurden beispielsweise die oftmals starke Traumatisierung der Holocaustüberlebenden, die reduzierten Erkenntnismöglichkeiten von Fragebögen, unterschiedliche Interessen bei der Datenerhebung heute und vor 50 Jahren, die in knappen, differierenden Antworten resultierten, oder schlicht praktische Erwägungen wie etwa Erinnerungslücken über 60 Jahre nach dem eigentlichen Geschehen. Im Buch werden diese Ergebnisse mit ausführlichen Zitaten aus den Gerichtsakten illustriert, die deutlich den fragwürdigen Umgang der Behörden und Gerichte mit den Quellen belegen. Auf diese Weise wurde die Unglaubwürdigkeit der Antragsteller regelrecht konstruiert (116).
Sicherlich ist das Maß für die Qualität dieser Rechtsprechung nicht die Anzahl der Urteile zugunsten der Holocaust-Überlebenden. Aber auch, wenn man Kriterien der Transparenz, Gleichbehandlung, Zügigkeit und Angemessenheit des Verfahrens zugrunde legt, zeigt sich das Versagen der Justiz. Gemeinsam mit den Sozialversicherern entwickelte sie einen Selbstschutzmechanismus, der in einem funktional und normativ so komplexen Vorgehen bestand, dass es Laien nicht mehr verständlich war. So konnten auch Kritik und Evaluation verhindert und Entscheidungskriterien gegen Einsprüche von Historikern oder Sozialwissenschaftlern verteidigt werden - was wiederum Irrtümer verstärkte (11).
Platts Fazit ist eindeutig: Rentenversicherer und Sozialgerichte waren verantwortlich für "eine systematisch benachteiligende Behandlung der Antragsteller" (459). Erst nach einer Grundsatzentscheidung des Bundessozialgerichts im Juni 2009 verbesserten sich die Erfolgschancen der Überlebenden spürbar. Das lag aber vor allem daran, dass diese nun nicht mehr als antragstellende Partei galten, sondern zu einem "moralischen Objekt" gemacht wurden, das über die Berechtigung zur Entgegennahme einer moralisch begründeten Leistung verfügte. Die Dimension eines Rechtsanspruchs für eine vorenthaltene Leistung wurde damit negiert und ausgeblendet. Dieses Deutungsmuster erleichterte den Wandel in der Entschädigungspraxis, denn die Verantwortlichen musste sich nun keine Fehler eingestehen - oder sich mit den Aussagen der Überlebenden auseinandersetzen.
Mit ihrer Studie hat Kristin Platt ein grundlegendes Werk zur Wiedergutmachung in neuester Zeit vorgelegt. Es dokumentiert die Rechtsprechung zum ZRBG und regt dazu an, den Umgang unserer Gesellschaft mit Opfern des Holocaust kritisch zu reflektieren. Für Historiker werden die rechtliche Materie und die nicht immer leicht verständliche sozialwissenschaftliche Sprache keine einfache Kost darstellen. Dennoch lohnt die Lektüre nicht nur für Spezialisten der Entschädigungsgeschichte. Der Blick über die Grenzen der Disziplin liefert wichtige methodische Anregungen zum Umgang mit schriftlichen Egodokumenten und im Bereich der Oral History konkrete Hinweise für die Befragung traumatisierter Menschen mit vielen Jahren Abstand zum eigentlichen Geschehen.
Stephan Lehnstaedt