Christine Axer: Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit. Deutschland und Österreich im Vergleich und im Spiegel der französischen Öffentlichkeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2011, 519 S., ISBN 978-3-412-20639-0, EUR 69,90
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Die Frage nach dem gesellschaftlichen, justiziellen und politischen Umgang mit einer diktatorischen Gesellschaft und mit kriegerischen Auseinandersetzungen ist von höchster Aktualität. Um gegenwärtig rechtliche, administrative und zivilgesellschaftliche Instrumente zur Wiederherstellung von Gerechtigkeit nach Krieg und Diktatur entwickeln zu können, ist es angezeigt, sich mit ähnlichen Vorgängen in der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Dabei hat die Geschichts- und Politikwissenschaft bereits in den 1980er Jahren begonnen, sich analytisch mit der Thematik der Vergangenheitsbewältigung zu beschäftigen. Die Publikation von Christine Axer, eine leicht überarbeitete und gekürzte Version ihrer Dissertation, steht in dieser Tradition der Geschichtsbetrachtung. Dabei liegt der Fokus der an der Universität Konstanz in der Forschungsgruppe "Geschichte + Gedächtnis" um Aleida Assmann tätigen Historikerin auf dem Umgang mit der NS-Zeit in Deutschland und Österreich aus dem Blickwinkel der französischen Öffentlichkeit in Form der Berichterstattung ausgewählter Zeitungen.
Als Kernpunkte ihrer Arbeit formuliert die Autorin die Frage nach der "Annahme einer äußeren Notwendigkeit, sich der historischen Verantwortung zu stellen" (14), einer möglichen "Diskrepanz zwischen der 'Vergangenheitsbewältigung' und ihrer Wahrnehmung" (14) und inwieweit "eine Korrektur der Deutschland- bzw. Österreichbilder bewirkt" wurde (15). Die Konzentration auf die Sicht der französischen Öffentlichkeit begründet Axer damit, dass Frankreich die NS-Gewaltherrschaft selbst unmittelbar erfahren hatte und daher Interesse an ihrer Aufarbeitung gehabt haben müsse. Als einer der vier Siegermächte habe Frankreich zudem einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Entwicklung Deutschlands und Österreichs genommen, nicht zuletzt, um seine Position in Europa zu stärken.
Nach der Erläuterung ihres Verständnisses von "Öffentlichkeit" und der Begründung, welche französischen Zeitungen ihrer Analyse zugrunde liegen, widmet sich die Autorin ausführlich der Definition des dem Historiker Hermann Heimpel zugeordneten Begriffes der "Vergangenheitsbewältigung" und versucht, ihn von anderen gängigen Termini wie "Erinnerungs- und Geschichtskultur" abzugrenzen. Obwohl Axer sich der Verwendung dieses, in der Geschichts- und Politikwissenschaft nicht unumstrittenen Begriffs, stringent annähert, scheint sie selbst nicht ganz überzeugt von dessen Anwendbarkeit für den Zweck ihrer Arbeit zu sein. Auf der einen Seite wird er durchgehend unter Anführungszeichen gesetzt, so als wolle sie sich schlussendlich doch davon distanzieren, auf der anderen Seite taucht er im Titel der Publikation - im Gegensatz zur Dissertation - nicht auf, sondern wird dem Begriff der "Aufarbeitung" gleichgesetzt. Seine geradezu inflationäre Verwendung ist umso bemerkenswerter, als die von Axer behandelten Aspekte des Umgangs von Gesellschaften mit Diktatur und Krieg im gegenwärtigen Diskurs unter dem Begriff Transitional Justice subsumierbar sind, welcher den Inhalt des Buches weitaus treffender umschrieben hätte.
Erstes Kernstück der Publikation ist die Auseinandersetzung mit der "Vergangenheitsbewältigung" in den Nachfolgestaaten des 'Dritten Reiches'. Damit bleibt für Deutschland die Zeit vor der Gründung der Bundesrepublik und der DDR ausgespart. Das ist zu bedauern, weil dies für den Transitionsprozess ganz wesentliche Jahre waren. In Westdeutschland beispielsweise gab es in jener Zeit die quantitativ intensivste Täterverfolgung durch deutsche Gerichte in der Nachkriegszeit. [1] Während die Autorin für die Bundesrepublik die wesentlichen Instrumentarien von Transitional Justice (wie strafrechtliche Ahndung der NS-Verbrechen, Wiedergutmachung, gesellschaftspolitische Auseinandersetzung ) analysiert, konzentriert sie sich bei der DDR in erster Linie auf die politische Auseinandersetzung mit der Diktatur des SED-Staates und konstatiert "weitestgehend ein Ausbleiben von 'Vergangenheitsbewältigung'." (133) Es wäre allerdings wünschenswert gewesen, wenn auch hier - beispielsweise in Bezug auf die strafrechtliche Ahndung der NS-Verbrechen - eine kritische Diskussion nicht nur mit den Waldheim-Prozessen, sondern auch mit den - etwa von C.F. Rüter dokumentierten - mehr als 900 Urteilen wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen [2] erfolgt wäre.
Obwohl die vier Siegermächte bis 1955 ein Besatzungsregime installierten und erst mit dem Abschluss des Staatsvertrags eine souveräne Republik möglich machten, analysiert Axer die Vergangenheitsbewältigung in Österreich bereits ab 1945. Dieser Zugang ist legitim, da die Alliierten hier eine eigene Regierung einsetzten, die einheitliche demokratische Strukturen aufbauen konnte. Als ein wesentliches Merkmal des Besatzungsregimes ist die Zuerkennung des Opferstatus anzusehen, dem die Autorin in ihrer Publikation großen Raum einräumt.
Im dritten Kernkapitel über die Wahrnehmung in der französischen Öffentlichkeit setzt sie sich sehr kritisch mit dem Umgang der österreichischen Politik mit diesem von den Alliierten zur Verfügung gestellten Interpretationsmodell auseinander. Als einen in Frankreich einflussreichen Unterstützer dieser offiziellen Opferthese macht sie unter anderem den österreichischen Widerstandskämpfer in der Résistance und KZ-Häftling Felix Kreissler aus, den Begründer des Centre d'Études et de Recherches Autrichiennes (CERA) und der Zeitschrift Austriaca. Kreissler, der einer "wissenschaftliche[n] Aufarbeitung der Geschichte, die sich nicht in 'Wertfreiheit' ergeht" anhing [3], nur auf einen vom österreichischen Außenministerium finanzierten Propagandisten der Opferthese (374) zu reduzieren, wird seiner Rolle als Vermittler der Geschichte und Kultur Österreichs abseits habsburg-nostalgischer und walzerseliger Österreichbilder nicht gerecht. Wer die Ehre und das Vergnügen gehabt hat, Felix Kreissler persönlich zu kennen, weiß, dass es nicht so einfach gewesen wäre, ihn zu instrumentalisieren. Nicht außer Acht gelassen werden darf selbstverständlich, dass er als Opfer der NS-Herrschaft Entwicklungen auch aus einer ganz persönlichen Sicht und aus der Zeit heraus kommentiert hat, wogegen es für Nachgeborene wesentlich leichter ist, objektiv zu urteilen.
Insgesamt kommt die Autorin zu dem Ergebnis, dass in den von ihr untersuchten Medien bis Ende der 1970er Jahre weder für Deutschland noch für Österreich Interesse "an 'Vergangenheitsbewältigung' als solcher ausgemacht werden" kann (440). Österreich wurde vorwiegend als Opfer des Nationalsozialismus wahrgenommen und das französische Deutschlandbild dominierte weniger der Nationalsozialismus als generell die historischen und gegenwärtigen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Dies änderte sich erst mit einem Paradigmenwechsel in der französischen Vergangenheitsbewältigung selbst, als zunehmend die eigene historische Verantwortung Gegenstand des öffentlichen Diskurses wurde.
Resümierend ist festzustellen, dass die Auseinandersetzung von Christine Axer mit der Frage des Umgangs mit der NS-Herrschaft in Deutschland sowie Österreich in der Debatte der 1980er Jahren um die Vergangenheitsbewältigung verhaftet bleibt. Sie zeichnet sich durch einen großen Reichtum an verwendeter Literatur und Quellen sowie durch die Originalität des Blickwinkels aus der Sicht der französischen Öffentlichkeit aus.
Anmerkungen:
[1] Adalbert Rückerl: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen 1945-1978. Eine Dokumentation, Heidelberg / Karlsruhe 1979, 125; Allgemein: Edith Raim: Der Wiederaufbau der westdeutschen Justiz unter alliierter Aufsicht und die Verfolgung von NS-Verbrechen 1945 bis 1949/50, in: Die lange Stunde Null. Gelenkter sozialer Wandel in Westdeutschland nach 1945, hgg. von Hans Braun / Uta Gerhardt / Everhard Holtmann, Baden-Baden 2007, 141-173; Andreas Eichmüller: Die Strafverfolgung von NS-Verbrechen durch westdeutsche Justizbehörden seit 1945, in: VfZ 56 (2008), 621-639.
[2] Christiaan F. Rüter (Hg.): DDR-Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung ostdeutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen. Verfahrensregister und Dokumentenband, Amsterdam / München 2002.
[3] Felix Kreissler (Hg.): Fünfzig Jahre danach - der "Anschluss" von innen und außen gesehen, Wien / Zürich 1989, 2.
Claudia Kuretsidis-Haider