Rezension über:

Rebekka Habermas: Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2008, 411 S., ISBN 978-3-593-38774-1, EUR 34,90
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Rezension von:
Dirk Blasius
Essen
Redaktionelle Betreuung:
Nils Freytag
Empfohlene Zitierweise:
Dirk Blasius: Rezension von: Rebekka Habermas: Diebe vor Gericht. Die Entstehung der modernen Rechtsordnung im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M.: Campus 2008, in: sehepunkte 8 (2008), Nr. 11 [15.11.2008], URL: https://www.sehepunkte.de
/2008/11/14562.html


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Rebekka Habermas: Diebe vor Gericht

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Es gibt zwei Kriterien, an denen sich der Wert einer historischen Arbeit bemisst: Interpretationseinfälle und ein Gespür für die Reichweite der benutzten Quellen. Rebekka Habermas hat eine Untersuchung vorgelegt, der Kreativität zuzubilligen ist. Sie knüpft an die Befunde der bisherigen Kriminalitätsgeschichte an und macht einen ihrer Schwerpunkte, die Diebstahlsvergehen, zum Ansatzpunkt eines neuen Blicks auf die Entstehungsgeschichte der modernen Rechtsordnung.

Ihre Quellen findet die Autorin "im hintersten Winkel Kurhessens". Auf diese Untersuchungsregion ist sie eher zufällig gestoßen. Aus den Beständen des Staatsarchivs Marburg werden gezielt Untersuchungsakten von Personen ausgewählt, gegen die das Kriminalgericht Marburg um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein Verfahren wegen Diebstahls eingeleitet hatte. Im Anhang zu dieser Arbeit sind weiterhin drei Repertorien des Marburger Gerichts dokumentiert, die quantifizierende Aussagen erlauben: Ein Repertorium verzeichnet für sämtliche Delikttypen ca. 5.000 Personen im Zeitraum 1840 bis 1863; ein zweites enthält 323 Schwurgerichtsfälle aus den Jahren 1849 bis 1859; die Angaben des dritten über 715 eingeleitete Verfahren stammen aus dem Jahr 1867. Die Autorin geht nicht darauf ein, dass nach 1866 Kurhessen zu den "neuen Preußischen Landestheilen" gehörte und ab Juni 1867 der preußische Staat die Hoheit über das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht übernahm, also preußische Rechtsvorgaben verbindlich wurden.

Die Tatsache, dass sich 1867 das Verhältnis von Körperverletzungen und Eigentumsvergehen geradezu umkehrte, bleibt unkommentiert. 1840 bis 1863 hatten Diebstähle einen Anteil an der Gesamtkriminalität von 32 Prozent, Körperverletzungen von 14 Prozent; 1867: Diebstähle 20 Prozent, Körperverletzungen 26 Prozent.

So überzeugend die Arbeit in ihrer Gedankenführung ist, hier hätte sich die Chance geboten, die kurhessischen Rechtszustände in die Verlaufsgeschichte von formellem und materiellem Strafrecht in Deutschland einzubetten, die im 19. Jahrhundert von Preußen dominiert wurde.

Rebekka Habermas Nahoptik der "Diebe vor Gericht" blendet keinesfalls Fragen nach dem Sozialprofil von Opfern und Tätern aus, doch sie korrigiert mit überzeugenden Argumenten gängige Annahmen. Sie kann im ersten Teil ("Was ist Diebstahl") ihrer durchgängig auf hohem Reflexionsniveau geschriebenen Arbeit zeigen, dass Eigentumsdelikte keine reinen Notdelikte waren und sie weist im dritten Teil ("Im Gerichtssaal oder: Was ist Recht?") aus der Perspektive des Massendelikts Diebstahl auf die "Bedeutungslosigkeit der Geschworenengerichte" für den Justizalltag hin. Ich sehe im zweiten Teil der Arbeit ("Wie wird Recht gemacht: Die Beweisproduktion") die zentrale, die Forschung bereichernde Kernthese quellennah ausgeführt. Hier wird das Agieren des Justizapparates geschildert und sein Beitrag zur "Engführung des Eigentumsbegriffs" gewichtet. Die Autorin stellt nicht die Normen des Strafrechts in den Vordergrund, sondern das Strafverfahren, die an ihm beteiligten Akteure und die von ihnen ausgeübten Praktiken. Sie beschreibt am Beispiel von Untersuchungsakten den Typus einer "spezifischen Verhörform", der sogenannten Recognition: "In den Protokollen werden seitenlang Menschen mit Dingen konfrontiert und die Identität der Dinge abgefragt - freilich nur auf die Frage hin, in welchem Besitzverhältnis das Ding zu den Personen stand. Eine andere Antwort, als dass das Ding der einen oder anderen Person gehörte, war nicht möglich." (147) In den Diebstahlsprozessen wurde nicht nur "Legitimität durch Verfahren" angestrebt, durch die hier sich zeigenden "Dynamiken" wurde auch die bestehende Eigentumsordnung legitimiert und stabilisiert. In den unendlich langen Verhandlungen über die Frage, wem was gehört, und unter Ausklammerung von möglichen sozialen Beziehungen, in denen Diebe und ihre um ein Stück Brot gebrachten Opfer standen, nahm, so die Autorin, "die moderne Vorstellung vom absoluten Eigentum Gestalt an."

Rebekka Habermas hat eine Untersuchung mit einem in seiner Informationsdichte beeindruckenden Anmerkungsapparat vorgelegt, die die historische Kriminalitätsforschung bereichert. Ihre Ausführungen regen zum Weiterdenken an, freilich müsste dies auch in chronologischen Kategorien erfolgen.

Dirk Blasius