Anne-Maria Wittke / Eckart Olshausen / Richard Szydlak: Historischer Atlas der antiken Welt. Unter Mitarbeit von Vera Sauer und weiteren Fachwissenschaftlern (= Der Neue Pauly. Supplemente; Bd. 3), Stuttgart: J.B. Metzler 2007, XIX + 308 S., ISBN 978-3-476-02031-4, EUR 179,95
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Der "Historische Atlas der antiken Welt" stellt innerhalb der Reihe der Supplemente zum Lexikon "Der Neue Pauly" ein Prunkstück dar. Die 161 farbigen Haupt- sowie 44 Nebenkarten beruhen, den Angaben im Vorwort (V) zufolge, zu 60% auf den Karten des "Neuen Pauly", die freilich vergrößert, modifiziert und zu Farbkarten umgearbeitet worden sind; bei den übrigen Karten handelt es sich um Neuzeichnungen, die versuchen, jeweils dem aktuellen Stand der entsprechenden Forschungsdiskussionen gerecht zu werden.
Die Herausgeber heben hervor, mit diesem Kartenwerk "in mehrfacher Hinsicht Neuland" betreten zu haben (V). Dazu gehört zum einen - in Anknüpfung an die Konzeption des 'Neuen Pauly' - die besondere Schwerpunktbildung im Bereich des Alten Orients (ab dem 3. Jahrtausend v. Chr.), dem mehr als ein Fünftel des Gesamtwerks gewidmet ist, zum anderen aber auch das weite (wenngleich sehr punktuelle) Ausgreifen in das byzantinische Mittelalter bis in die Zeit der drei ersten Kreuzzüge (248f.), der Lateinerherrschaft (250f.) und der Palaiologen (252f.); das westliche Mittelalter findet demgegenüber allerdings keine Berücksichtigung. Eine weitere Innovation, auf welche die Autoren stolz sein können, sind die ausführlichen Erläuterungen und Kommentare der Karten: In der Regel werden auf Doppelseiten die Karten jeweils durch längere Einführungen ergänzt, die zumeist aus älteren Artikeln des 'Neuen Pauly' zusammengebaut sind. Sie sollen mit zu einem "dynamischen" Verständnis der Karten beitragen, die "mehr sein [wollen] als bloßes visuelles Endresultat der Auflistung historischer Fakten. Sie dynamisieren die historischen Gegebenheiten mit ihrer spezifischen Kartensprache. Sie hierarchisieren die verschiedenen Ebenen der historischen Aussage, pointieren dadurch die Kernpunkte und bieten darüber hinaus vielfache Zusatzinformationen. Die Überlegenheit der nur im (Karten-) Bild möglichen Simultandarstellung von komplexen historischen Gegebenheiten wird in der Kartographie dieses Atlas deutlich" (V). Schließlich legen die Herausgeber Wert darauf, in ihren Darstellungen nicht nur Ereignis- und Politikgeschichte, sondern auch Wirtschafts-, Verwaltungs-, Religions- und Kulturgeschichte beleuchtet zu haben.
Wie sieht es nun mit der Umsetzung dieser hohen Ansprüche aus? Grundsätzlich - dies sei bereits vorweggenommen - darf das Unternehmen als gelungen angesehen werden. Dem Anspruch einer größeren inhaltlichen Breite kommen zahlreiche 'Themenkarten' nach, so etwa unter den Überschriften "Urartu und das östliche Anatolien um 700 v. Chr." (40f.), "Kernverbreitungsgebiete von Schriften im östlichen Mittelmeerraum" (60f.), "Sprachen im alten Italien vor der Ausbreitung des Lateins" (66f.), "Handelswege in hellenistischer Zeit (4.-1. Jh. v. Chr.)" (134f.), "Der sog. Bataveraufstand der Jahre 69/70 n. Chr." (190f.), "Wichtige Anbaugebiete im Mittelmeerraum (1. und 2. Jh. n. Chr.)" (200f.), "Die Distribution der Legionen und die Grenzen des Römischen Reichs" (208f.), "Die Organisation der christlichen Kirche / Routen christlicher Pilger" (228f.) usw. Auch das Bemühen, auf die antike Wahrnehmung der Welt Rücksicht zu nehmen und daher u.a. die Kartenentwürfe von Hekataios, Herodot, Eratosthenes und Ptolemaios mit aufzunehmen (4f.), ist ausgesprochen begrüßenswert.
Neben solchen willkommenen Ergänzungen bietet der Atlas selbstverständlich auch das erwartbare 'Standardrepertoire', stets in gelungener Farbqualität und mit üppiger Ausstattung, vom Achaimenidenreich (86f.) über die Perserkriege (88f.), Alexanders Feldzüge (112f.) und die hellenistische Staatenwelt (128f.) bis hin zu den Provinzen des Imperium Romanum von Augustus bis Septimius Severus (176f.) und dem Reich Justinians (236f.). Neueste Ergebnisse althistorischer Forschung spiegeln sich u.a. in den Karten zu den griechischen Bundesstaaten (100-103) sowie in der Behandlung des palmyrenischen und des gallischen Sonderreiches (220-223).
Zur im Vorwort apostrophierten 'dynamischen' Betrachtungsweise soll offensichtlich die häufige Formulierung von Kartenüberschriften im Stile von "Die Entwicklung des/der..." beitragen, was indes mitunter zu Verwirrung führt, weil es nicht immer leicht ist, diese "Entwicklungen" in den Karten wiederzufinden. Daneben überraschen einige grundsätzliche Entscheidungen: So lassen sich aus dem generellen Postulat einer stärkeren Betonung der antiken Kulturen jenseits der griechisch-römischen Welt - insbesondere des Alten Orients - zweifelsohne gute Argumente dafür ableiten, bestimmte Phänomene in einer übergreifenden Zusammenschau zu präsentieren (wenngleich ich mit der Sicht auf die klassische Antike als "ehemaliger Randkultur der orientalischen Reiche" [V] meine Schwierigkeiten habe). Ob es aber geschickt war, in die einzige Karte zur griechischen Kolonisation auch die zeitlich nicht unbedingt deckungsgleiche und aus ganz anderen Motivationen und Rahmenbedingungen heraus erfolgte phönizische und etruskische Kolonisation mit aufzunehmen (68f.), sei dahingestellt. Überhaupt scheinen mir manche Formulierungen und Konzeptionen überkorrekt gefasst zu sein. So fragt man sich etwa bei der Lektüre des Inhaltsverzeichnisses, was denn mit "Kulturelle[n] Entwicklungen im germanischen Siedlungsraum" gemeint sein könnte, bis bei einem Blick auf die Karte deutlich wird, dass es im Wesentlichen um die Verbreitung der germanischen Einzelsprachen sowie der archäologisch unterscheidbaren 'Kulturgruppen' geht (230f.). Letztere freilich hätte man sich gerade für die Völkerwanderungszeit, in der sie für Ethnogenesefragen entscheidende Bedeutung gewinnen, präzise dargestellt gewünscht - doch in diesem Punkt offenbart der Atlas Lücken. Dem komplexen Prozess der Herausbildung gentiler Reiche auf ehemals römischem Territorium ist sodann nur eine einzige Karte gewidmet, in dem die beiden aufeinanderfolgenden Westgotenreiche zusammen mit dem Vandalen-, Franken- und Ostgotenreich, den beiden Burgunderreichen und weiteren Machtbildungen dargestellt sind; nur aus der Legende und dem Kommentar wird hier ersichtlich, dass die Karte eine Entwicklung, die sich über mehrere Jahrhunderte hin zog, punktuell fixiert hat. Gerade an dieser Stelle wäre im Titel der Terminus "Entwicklung" angebracht gewesen, doch hier vermisst man ihn.
Große Aufmerksamkeit schenkt der Atlas schließlich der Entwicklung des römischen Provinzsystems und dem unterschiedlichen Zuschnitt der Provinzen. Alle betreffenden Karten reichen jedoch nur bis in das 4./5. Jahrhundert, sparen also die späteren Veränderungen aus; erst mit der Karte zur byzantinischen Themenverfassung (238f.) wird dieser Strang wieder aufgegriffen, doch wird dort weiterhin an der längst widerlegten Legende festgehalten, bei den Themen handele es sich um eine Schöpfung des Herakleios. Kleinere Versehen lassen sich sicherlich im Rahmen einer 2. Auflage tilgen, so etwa die Aufnahme des im 5. Jh. gegründeten Theodosioupolis in eine Karte über den Zeitraum 1.-3. Jh. (213).
Insgesamt bleibt indes ein positiver Gesamteindruck zurück. Das neue Kartenwerk stellt ein wichtiges Lehr- und Arbeitsmittel dar und sollte als solches in keiner althistorischen Bibliothek fehlen.
Mischa Meier