Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2008, vii + 246 S., ISBN 978-0-521-72025-0, GBP 15,99
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Nach dem Abklingen der Sonderwegsdebatte war es still geworden um die Suche nach Kontinuitäten in der deutschen Geschichte. Der vorliegende Band nun wirft, mit frischen methodischen Voraussetzungen, neue und spannende Fragen zu dieser Thematik auf. Der zeitliche Rahmen ist nicht so einfach auszumachen wie der Untertitel es haben will. Ausgangspunkt sind die bereits im Mittelalter herausgebildeten Denkbilder und deren Tradierung in die Moderne. Doch geht es auch um das Jahr 1941, den "Fluchtpunkt" deutscher Geschichte. So versucht Smith die deutsche Geschichte aus einer Perspektive heraus zu analysieren, die durch Auschwitz geformt ist, ohne die Geschichte aus dem 20. Jahrhundert zurücklesen zu wollen. Im Gegensatz zu den meisten Historikern, die sich dem Holocaust nähern, findet Smith dessen wesentliche Wurzeln nicht im 20., sondern im 19. Jahrhundert.
Im ersten der fünf Essays, "The Vanishing Point of German History", beschreibt Smith die Verschiebung einer historischen Zäsur vom Jahr 1933 zum Jahr 1941, von der lange im Blickpunkt der Forschung stehenden Frage nach dem Beginn totalitärer Herrschaft zur Frage nach den Ursachen des Genozids und der totalen Zerstörung. Während der ersten Nachkriegsjahrzehnte konnte ein Standardwerk zum 'Dritten Reich' wie Karl Dietrich Brachers Studie über die deutsche Diktatur sich auf nur elf von über 500 Seiten auf den Mord an den europäischen Juden beschränken. Verglichen damit widmen sich über 90 Seiten in dem (über 800 Seiten dicken) Werk von Michael Burleigh (The Third Reich) dem Judenmord. Doch sowohl Bracher wie auch Burleigh beschränken sich in ihrer Ursachenanalyse auf die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Hierin unterscheidet sich Smiths Perspektive von den meisten früheren Studien.
In seinem zweiten Essay wirft er den Blick aufs späte 18. und frühe 19. Jahrhundert, ausgehend von der Unterscheidung zwischen einer "nation conceived as exterior and a nation conceived as interior." (59) Dieser Wechsel im Verständnis der Nation habe im deutschen Kontext mit Herder eingesetzt und sich mit Fichte verfestigt. Innere Werte ersetzen von außen gesetzte geographische Definitionen, Sprache wird von einem Kommunikationsmittel zu einem Mittel der seelischen Bindung. Wilhelm von Humboldt konnte so die Sprache zum wahren Vaterlande erklären. In Fichtes Republik der Deutschen, jenem utopischen Fragment, das ein Deutschland im 22. Jahrhundert skizziert und dessen Grenzen von der Memel bis nach Venedig reichen, geht die Definition derjenigen, die zur Nation gehören mit der Ausgrenzung der "anderen" einher. Polen und Juden sind verschwunden. Die Polen sind entweder Deutsche oder Russen geworden, Juden sind entweder in den Deutschen aufgegangen oder haben - sofern sie Juden bleiben wollten - einen neuen Staat in Palästina gegründet.
Im dritten Essay geht es um unterschiedliche Arten von Erinnerung an Katastrophen. Smith stellt die These auf, dass im Gegensatz zu der "kollektiven Amnesie" (W.G. Sebald) betreffend die Gewalttaten des Dreißigjährigen Krieges das Leiden der Juden im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit von Christen sowie von Juden bewahrt worden sei. Juden zeichneten die an ihnen begangenen Verbrechen in Memorbüchern auf und gedachten jahrhundertelang ihrer Toten. In der christlichen kollektiven Erinnerung wurde die Verfolgung der Juden einem Transformationsprozess unterworfen. In einer Art Rechtfertigungsstrategie für Vertreibungen und Verfolgungen entstanden Ritualmord- und Hostienschändungslegenden. An den betreffenden Stätten wurde nun nicht der Juden gedacht, sondern der angeblich von ihnen an Christen begangenen Taten. Marienkirchen und Sühnekapellen "schmückten" nun die Orte, an denen ehemals Synagogen standen, Bilder malten in allen Details die erfundenen Vorgänge aus, viele der betreffenden Orte wurden zu einträglichen Zielen von Pilgerfahrten. Für Smith ist diese Art der negativen Erinnerung an die einstmals in ihrer Mitte lebenden Juden ein Grund dafür, dass der im 19. Jahrhundert neuentstehende, durch innere Werte definierte Nationenbegriff Juden ausschloss und den deutschen Juden keine partikulare Erinnerung an ihre Leidensgeschichte gestattete. In den Worten Ernst Moritz Arndts stellten sie ein vollkommen fremdes Volk dar, und bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts bereiteten Gelehrte wie Jakob Friedrich Fries und Friedrich Rühs die theoretischen Voraussetzungen für eine Eliminierung der Juden aus der Gesellschaft. Es wurde so die Grundlage für eine Volksgemeinschaft gelegt, die nicht nur deutsch, sondern auch christlich definiert war.
Diese theoretischen Schriften, bald gepaart mit pseudowissenschaftlichem rassistischem Denken, bildeten Smith zufolge nur einen Teil des Nährbodens für den in Deutschland während des 19. Jahrhunderts entstehenden Antisemitismus. Einen anderen Faktor macht er in der Zunahme antijüdischer Gewalt seit Beginn des 19. Jahrhunderts aus. Historiker wie Stefan Rohrbacher für den Vormärz oder Dierk Walter für die Weimarer Republik haben diese in der früheren Forschung oftmals übersehene Entwicklung in den letzten Jahren bereits zur Kenntnis genommen, Smiths eigene Forschungen zu Ritualmordvorwürfen im Deutschland des Kaiserreichs haben zu unserem weiteren Verständnis beigetragen.
Smith bettet seine Darstellung der deutschen Situation hier in den europäisch-jüdischen Kontext ein, in dem freilich einige Argumentationslinien schwächer verlaufen als in dem äußerst überzeugenden und ansprechenden Rest des Buches. Um die Gewaltzunahme im 19. Jahrhundert zu begründen, muss er zunächst die antijüdische Gewalt in den Jahrhunderten davor möglichst gering ansetzen. Schwierig wird dies vor allem, wenn man die antijüdischen Exzesse der Chmielnicki-Pogrome von 1648/49, die sich tief ins jüdische Bewusstsein eingegraben haben, nicht unberücksichtigt lassen will. Smith löst dies, indem er sie als "major and most remarkable exception to the general tenor of the quiet years" (120) bezeichnet. Immerhin geht auch er unter Berufung auf Shaul Stampfer davon aus, dass in den betreffenden Regionen der Ukraine die Hälfte der jüdischen Bevölkerung getötet wurde. Kann man aber sagen, "The bloody events in the Ukrainian borderlands contrasted with the relative quiet throughout the rest of Europe" (121)? Immerhin betraf die geschilderte Gewalt das Zentrum jüdischen Lebens. Nicht vergessen werden darf, dass es dagegen in Westeuropa so ruhig war, da sich dort nach der Vertreibung der Juden im Mittelalter gar keine (Spanien und Portugal) oder nur ganz wenige (England und Frankreich) Juden angesiedelt hatten. Auch dies ist zu berücksichtigen, wenn von der "relativen Ruhe" im Rest Europas die Rede ist.
Dennoch ist Smith zuzustimmen, wenn er den Ausbruch anti-jüdischer Gewalt durch die sogenannten Hep-Hep-Unruhen 1819 als eine neuartige Entwicklung beschreibt. Dass das Zeitalter der Emanzipation mit verbaler und physischer Gewalt gegen die Juden einherging, haben bereits andere Historiker beschrieben, Smith kommt das Verdienst zu, ein langfristiges theoretisches Gerüst zu schaffen, das den Rückblick ins Mittelalter ebenso freimacht wie den Ausblick ins 20. Jahrhundert, die intellektuellen ebenso wie die physischen Bezüge herstellt. Zudem bietet er erstmals einen Gesamtblick auf die antijüdischen Exzesse am Ende des 19. Jahrhunderts, von der Dreyfus-Affäre bis zu den Pogromen in Kischinew. Dabei ist trotz aller Gemeinsamkeiten Zweifel angebracht, ob nicht doch eine größere Distanz zwischen den Pogromen in Osteuropa und den gelegentlichen Ausbrüchen antijüdischer Gewalt in Westeuropa besteht als der Autor es vermutet. Wie wären sonst zahlreiche Flüchtlinge aus Osteuropa am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Westeuropa gelandet? Doch stellt gerade dieses vierte Kapitel des Buches eine eindrucksvolle Gesamtschau auf die antijüdische Gewalt in Europa dar, die zu Recht unter den Titel "From Play to Act" gestellt wurde.
Der letzte Essay über eliminatorischen Antisemitismus bildet einen treffenden Abschluss, in dem rassistisch durchzogene Nationalismen à la Paul Rohrbach und Heinrich Class als Vorboten einer nationalsozialistischen Ausmerzungsideologie gedeutet werden. Smith nimmt im Unterschied zu zahlreichen Historikern Goldhagens Thesen durchaus ernst, sieht darin auch manchen Verdienst, modifiziert diese aber deutlich und vermeidet vor allem dessen grobe Vereinfachungen. So entsteht ein theoretisch fundierter und aus den Erkenntnissen der neueren Literatur gespeister Gesamtblick auf den modernen Antisemitismus, der für jede weitere Diskussion zum Thema unentbehrlich ist und der eine baldige Übersetzung ins Deutsche wünschen lässt.
Michael Brenner