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Nils Freytag: Mehrfachbesprechung:
Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Einführung, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 1 [15.01.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
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Mehrfachbesprechung:
Helmut Walser Smith: The Continuities of German History

Einführung

Von Nils Freytag

In den 1970er und 1980er Jahren wurde der Frage nach einem "deutschen Sonderweg" in die Moderne in der deutschen wie internationalen Geschichtswissenschaft ein herausragender Stellenwert beigemessen. Sie dominierte und inspirierte die Forschung zum späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wie kaum eine zweite und lenkte den Blick durch "eine problemorientierte historische Strukturanalyse der deutschen Gesellschaft "auf die Wechselwirkungen zwischen sozialen Gruppen sowie kulturellen und wirtschaftlichen Strukturen einerseits und dem politischen Herrschaftssystem andererseits. In Abkehr von der nationalkonservativen Meistererzählung eines preußisch-deutschen Mittelweges zwischen westlichen Demokratien und östlichen Autokratien sollte die Analyse der "eigentümlichen Belastungen der deutschen Geschichte […] den Weg in die Katastrophe des deutschen Faschismus [...] erhellen". [1] Die Debatte um die Existenz eines im westeuropäisch-nordamerikanischen Vergleich vorhandenen Sonderwegs, um Modernisierungsdefizite und um Kontinuitäten in der deutschen Geschichte wurde teils hitzig geführt und war nicht frei von persönlichen Invektiven. Aber sie war auch produktiv, denn sie stieß neben zahlreichen Spezialstudien zu den Jahrzehnten um 1900 zugleich auch die großen Synthesen über das Deutsche Kaiserreich von Thomas Nipperdey (1990/92) und Hans-Ulrich Wehler (1995) maßgeblich mit an.

Dass die Fragen nach Ursprüngen, Verlauf und Ursachen eines deutschen Sonderweges, der in den millionenfachen Mord an den deutschen und europäischen Juden führte, seit geraumer Zeit nur noch eine nachgeordnete Rolle im Forschungsbetrieb spielen, hat vor allem zwei Gründe. Erstens scheinen die Argumente ausgetauscht, der Grenznutzen der Debatte sowie ein nivellierender Konsens erreicht. Zweitens trieb der Problemkomplex insbesondere die "lange Generation" der vor 1945 geborenen Historiker um, die aller Vergleiche zum Trotz noch an der Idee von der nationalen Meistererzählung orientiert war und welche die Debatte in der alten Bundesrepublik dominierte. [2] Eine bereits früh monierte Folge war, dass die Konzentration auf die Sonderwegsdiskussion dazu beitrug, zahlreiche - etwa alltags- und kulturgeschichtliche - Perspektiven unterzubelichten. Dieser bereits früh eingeforderten Perspektivenvielfalt trägt die Geschichtswissenschaft mittlerweile verstärkt Rechnung, was sich unter anderem in stärker international ausgerichteten Fragestellungen niederschlägt. Davon zeugen gerade transnationale oder umweltgeschichtliche Arbeiten zum langen 19. Jahrhundert.

Bemerkenswert ist, dass mit Helmut Walser Smith ein Vertreter der jüngeren Historikergeneration die Gretchenfrage der Geschichtswissenschaft alter bundesrepublikanischer Prägung nun mit seinem neuesten Buch zurück auf die Tagesordnung bringt. Der als Martha Rivers Ingram Professor of History an der Vanderbilt University in Nashville / Tennessee (USA) lehrende Historiker hat sich als exzellenter Kenner des Deutschen Kaiserreichs von 1871 einen Namen gemacht. Neben einer Arbeit zum Verhältnis von Nationalismus und Religiosität ist im vorliegenden Zusammenhang insbesondere aufmerksam zu machen auf seine glänzende Mikrostudie zum Antisemitismus im Kaiserreich am Beispiel der so genannten Konitzer Ritualmordaffäre von 1900 und ihrer fatalen Folgen. [3] Smith zeichnet eine Methodenvielfalt und -offenheit aus, welche die Sonderwegsdebatte mit neuen "Sehepunkten" bereichern könnte. Ertrag und Defizite seines Ansatzes soll dieses FORUM ausleuchten, für das Experten unterschiedlicher Teilfächer gewonnen werden konnten.


Anmerkungen:

[1] Alle Zitate nach Hans-Ulrich Wehler: Das Deutsche Kaiserreich 1871-1918, 6., bibliographisch erneuerte Aufl., Göttingen 1988 (1. Aufl. 1973), 11f.

[2] Vgl. nur Paul Nolte: Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine "lange Generation", in: Merkur 53 (1999), 413-432. James J. Sheehan: Paradigm Lost? The "Sonderweg" Revisited, in: Gunilla Budde / Sebastian Conrad / Oliver Janz (Hgg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 150-160.

[3] Helmut Walser Smith: Die Geschichte des Schlachters. Mord und Antisemitismus in einer deutschen Kleinstadt, Göttingen 2002. Vgl. auch transnationale Überlegungen bei dems.: An Preußens Rändern oder: Die Welt, die dem Nationalismus verloren ging, in: Sebastian Conrad / Jürgen Osterhammel (Hgg.): Das Kaiserreich transnational. Deutschland in der Welt 1871-1914, Göttingen 2004, 149-169.

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