Helmut Walser Smith: The Continuities of German History. Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge: Cambridge University Press 2008, vii + 246 S., ISBN 978-0-521-72025-0, GBP 15,99
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Helmut Walser Smith kehrt in diesem Buch zu einer der ganz großen Fragen der deutschen Geschichte zurück, die in letzter Zeit aber etwas in den Hintergrund aktueller Forschungsdebatten getreten ist. Welche Kontinuitäten der deutschen Geschichte machten das Land zu einem fruchtbaren intellektuellen Nährboden, auf dem die Grundlagen eines eliminatorischen Rassismus gedeihen konnten? Wie kann und muss man die lange Vorgeschichte des von Deutschland ausgehenden millionenfachen Mords an den Juden Europas erzählen? Diese Frage stand, in etwas abgewandelter Form, hinter den heftigen Debatten zu Ursprung, Charakter und Existenz des 'deutschen Sonderwegs', welche die deutsche und internationale Geschichtswissenschaft bis in die 1980er Jahre heftig umtrieben, bevor sie durch einen scheinbaren Konsens einerseits, neuartige, weniger an nationalen Meistererzählungen orientierte Fragestellungen andererseits in den Hintergrund gedrängt wurde.
Smith umkreist die Frage - ausgehend von einer Schilderung seiner Besichtigung einer Kirche, die nach 1519 in Regensburg auf den Ruinen einer Synagoge errichtet wurde - in fünf "Versuchen" (6). Das erste Kapitel schildert die Verschiebung von dem, was Smith "Fluchtpunkte" der deutschen Geschichte nennt. Damit ist etwas gemeint, was man dramatischer auch als den Moment umschreiben könnte, an dem sich Deutschland eindeutig zum Sonderfall entwickelte. 1939 schien eine nach 1945 plausible Annahme zu sein, ebenso 1933, im Zuge der Fischer-Kontroverse vielleicht eher 1914, heute wohl vor allem 1941, der Beginn der systematischen Massentötung. Kernargument des Versuchs: Die Wahl eines Fluchtpunkts betrifft nicht nur dessen unmittelbare Vorgeschichte, sondern strahlt auf die Gesamtinterpretation der deutschen Nationalgeschichte aus, die in langer Perspektive betrachtet werden muss.
Der zweite Versuch handelt von der Frage, ab wann man von einer deutschen Nation sprechen kann. Hier wendet sich Smith gegen 'Modernisten', welche den Entwicklungen der "Sattelzeit" besondere Bedeutung zuerkennen. Er sieht die Konstitution einer deutschen Nation bereits in kartografischen Werken des 16. Jahrhunderts gegeben, die ein fest umgrenztes deutsches Territorium in seinem internationalen Kontext visualisieren. Gewiss hätten sich durch Herder und Fichte Änderungen ergeben, aber man dürfe die Nation eben nicht nur durch die in diesem Fall verzerrende Linse der modernen Nationsvorstellungen betrachten.
Smith wendet sich sodann Mechanismen der Inklusion und Exklusion von Glaubensgemeinschaften in diese deutsche Nation zu. Das Beispiel der auf den Ruinen einer Synagoge errichteten Regensburger Kirche mache überdeutlich, dass die Erinnerung an die ehemalige Präsenz von Juden in den durch die Vertreibungen der Frühen Neuzeit ausschließlich christlich gewordenen Stadt- und Landgemeinden Deutschlands durch Baudenkmäler, Inschriften oder Statuen wachgehalten wurde. Dagegen bettete sich ein Mantel des Schweigens über andere Beispiele religiös motivierter Gewalt: Die Gräuel des Dreißigjährigen Krieges mussten zunächst vergessen und dann behutsam wieder ins kollektive Gedächtnis geholt werden, damit sich deutsche Katholiken und Protestanten als eine Nation fühlen konnten, die im 17. Jahrhundert zum Spielball auswärtiger Mächte geworden war. Das dauernde Erinnern an die Judenvertreibungen habe dagegen die Integration in diese imaginierte nationale Gemeinschaft für Juden unmöglich gemacht. Juden mussten sich entweder damit abfinden, dass sie selbst nach der rechtlichen Emanzipation auf Schritt und Tritt mit Erinnerungsorten an vergangenes Unrecht konfrontiert wurden, die weiterhin Identifikation mit der Vertreibung von Juden zu erfordern schienen. Oder sie setzten sich durch ihre Kritik an der merkwürdigen deutschen Erinnerungskultur dem Vorwurf aus, die Nation in unpatriotischer Weise durch überzogene Sensibilitäten spalten zu wollen.
Im vierten Versuch ("from play to act") weitet sich der Blick: Hier geht es um die Geschichte antijüdischer Gewalt in Europa. Smith diagnostiziert für die Frühe Neuzeit ein typisches Schema der ritualisierten Demütigung oder Vertreibung einer als fremd stigmatisierten Gruppe, die sich ihrerseits in aller Regel in ihre Opferrolle fügte und entsprechend verhielt. Sie nahm Vermögensverluste in Kauf und verließ gegebenenfalls widerstandslos den Ort. Von modernen judenfeindlichen Ausschreitungen unterschieden sich diese Demütigungs- und Vertreibungsaktionen nicht zuletzt dadurch, dass aufseiten der Opfer kaum Tote zu beklagen waren. Dieses Muster blieb auch in den Ausschreitungen des 19. Jahrhunderts - etwa der Hep-Hep-Bewegung von 1819 oder den antijüdischen Unruhen 1848 - weitgehend dominant. Einen Wandel zum Schlimmeren brachten erst die Pogrome im Westen des russischen Herrschaftsgebiets, vor allem in Elisavetgrad 1881 und Kishinev 1904, (mit weitaus weniger Opfern) auch die Dreyfus-Demonstrationen in Frankreich 1898. Smith sieht drei im negativen Sinne zukunftsweisende Gründe für den Wandel: Zunächst das Abweichen der Juden vom eingeübten Ritual, indem sie sich selbst verteidigten, was noch härtere Gewalt provozierte; sodann eine säkulare Zunahme von Gewalt in Europa im späten 19. Jahrhundert; schließlich den Kontext von Kriegsvorbereitung (etwa 1904 die Mobilisierung zum russisch-japanischen Krieg), Krieg, Niederlage und Revolution.
Belege für diesen Wandel findet Smith auch in Deutschland, wo er für die Weimarer Republik eine im Vergleich zum Kaiserreich drastische Zunahme der Opferzahlen bei antijüdischen Ausschreitungen konstatiert, die sich im 'Dritten Reich' bereits vor Beginn der systematischen Vernichtungspolitik in immer dramatischeren Dimensionen fortsetzte.
Der letzte "Versuch" zieht manche der Fäden erneut zusammen. Er widmet sich dem Aufstieg des eliminationistischen Rassismus im Kaiserreich, jener intellektuellen Gemengelage aus Historie, Biologie, Demografie, Migrationsbeobachtung, Kolonialerfahrung und Ideologie welche die Vertreibung und damit - zunächst metaphorische - Vernichtung von als fremde ethnische Gruppen definierten Bevölkerungsteilen als Weg zur Lösung sozialer Probleme erscheinen ließ. Die Zusammenfassung skizziert schließlich, wie ein Nachweis der Bedeutung der von Smith identifizierten langen Vorgeschichte für die Vernichtungspolitik des 'Dritten Reichs' aussehen könnte.
An dem Werk, dessen Untertitel der enormen Breite des Zugriffs nicht gerecht wird, gibt es viel zu loben. Smith lenkt den Blick mit charakteristischer Kennerschaft zurück auf die großen, die wesentlichen Fragen. Er macht gerade durch seinen transnationalen Zugriff die Grenzen dessen deutlich, was bisweilen als eine transnationale Perspektive erscheint, die nationale Besonderheiten allzu sehr relativiert. Gerade deswegen laden die meisterhaften "Versuche" freilich auch zum Weiterdenken und Weiterfragen ein.
Eine erste Beobachtung in diesem Sinne könnte sich auf die Art und Weise beziehen, in der die Fluchtpunkte der deutschen Geschichte (re-)konstruiert werden. Es fällt auf, dass der Nachweis der Bedeutung der Fluchtpunkte für "German historians" (worunter Smith deutsche Historiker und Historiker Deutschlands versteht) fast ausschließlich mit Blick auf einen um wenige Klassiker erweiterten Kanon von Werken der zeithistorischen Forschung erfolgt. Verstellt das nicht eventuell den Blick auf die Bedeutung der Fluchtpunkte dafür, wie (oder ob) deutsche Geschichte in einer längeren Perspektive geschrieben wurde? Und besteht nicht eine im Rahmen der Analyse nicht immer aufgelöste Spannung zwischen dem paneuropäischen Blick auf antijüdische Ausschreitungen, die nach europäischen, nicht nationalspezifischen Mustern (155) abgelaufen seien, und der Konzentration auf nationale Kontinuitäten? Anders gewendet - wo wäre der russische dreißigjährige Krieg? Oder gab es in Frankreich eine im gleichen Maße die Konfessionen versöhnende Erinnerung wie in Deutschland? Würde es dem Zugriff Smiths auf die Realität antijüdischer Gewalt in Europa nicht doch eher entsprechen, wenn man den "Fluchtpunkt" 1941 - wie das unmittelbar nach 1945 in teils apologetischer, teils analytischer Absicht getan wurde - als europäischen Zivilisationsbruch begriffe, der gerade nicht zur Justierung der Erzählung einer nationalen Geschichte taugt, für die man mit guten Argumenten 1914, 1918/19 oder 1933 für bedeutsamer halten könnte?
Methodisch verbindet Smith die Geschichte von Argumenten, Ritualen und Diskursen - das also, was man als "neue Politikgeschichte" rubrizieren könnte - mit der genauen Untersuchung der Punkte, an denen sich neue Praktiken manifestieren. Er wendet sich damit zu Recht gegen allzu einfache Konstruktionen von Kontinuitäten, die etwa unmittelbar von der antisemitischen Rhetorik der extremen Rechten im Kaiserreich auf die Ursachen des Holocaust schließen. Er hält dennoch die Annahme einer direkten Verbindung zwischen Kolonialgewalt und Holocaust für plausibel, da in den Kolonien erstmals die Vernichtung ganzer Völker zum Programm geworden sei (197-201), eine These, der Robert Gerwarth und Stephan Malinowski jüngst gerade unter Verweis auf die Praxis mit guten Argumenten widersprochen haben [1] - vermutlich wird die Diskussion über diesen Punkt noch länger andauern.
Schwieriger wird die Argumentation dort, wo sie sich auf eine weniger präzise und differenzierte Beweisführung einlässt. Das scheint mir vor allem bei der - für Smiths Zugriff jedoch nicht zentralen - Frage der Nationsbildung durch Karten der Fall. Die Konzentration auf nationale Karten scheint das Übergewicht regionaler, lokaler oder größerer Darstellungen zu übersehen, auf denen nationale Grenzziehungen oder Beschreibungen gerade im deutschen Kontext nicht überwogen. Die Einordnung der lokalen Herrschaft in einen größeren Rahmen konnte, musste aber nicht mit Blick auf die Nation erfolgen - zumal die Perspektive auf die Nation zugleich die Frage nach dem "nationalen" Status des Römischen Reichs aufwirft. Das scheint ein Nebengleis der Argumentation zu sein - und ist es sicher auch, wäre nicht die Frage, ab wann es sinnvoll ist, von einer "deutschen" Geschichte in dem Sinn zu sprechen, dass sich in Deutschland bestimmte von einem europäischen Muster abweichende Entwicklungen ausgeprägt haben, die für alle Teile Deutschlands gleichermaßen charakteristisch waren. Gelingt dieser Nachweis für das 16. Jahrhundert nicht, dann wird die lange Kontinuität der deutschen Geschichte, die Smith herausarbeiten will, zumindest etwas weniger plausibel. Das ist auch deswegen der Fall, weil die Beobachtung regionaler Divergenzen und Disparitäten den Blick auf Eigenarten der 'deutschen' Geschichte lenkt, die weniger mit der Geschichte religiöser Vertreibungen und mehr mit Besonderheiten im Bereich der großen Politik zu tun haben. Also mit Entwicklungen, die über die Besonderheiten der Ausbildung eines relativ homogenen Nationalstaats dann doch eher auf Fluchtpunkte wie 1914 oder 1939 hindeuten, also auf die Bedeutung des Krieges in Smiths Erklärung für den Übergang vom Ritual der Gewaltandrohung zum realen Pogrom.
Was folgt daraus? Sicherlich, dass auch diese Frage weiter diskutiert werden wird. Aber vor allem, dass das große Verdienst des Buchs von Smith ist, überhaupt wieder auf die Tatsache hingewiesen zu haben, dass solche Fragen zentrale Elemente der Beschäftigung mit deutscher Geschichte sein und bleiben sollen.
Anmerkung:
[1] Robert Gerwarth / Stephan Malinowski: Der Holocaust als "kolonialer Genozid"? Europäische Kolonialgewalt und nationalsozialistischer Vernichtungskrieg, in: Geschichte und Gesellschaft 33 (2007), 439-466.
Andreas Fahrmeir