Franziska Uhlig: Konditioniertes Sehen. Über Farbpaletten, Fischskelette und falsches Fälschen, München: Wilhelm Fink 2007, 186 S., 31 Abb., ISBN 978-3-7705-4362-5, EUR 24,90
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Haidy Geismar: Museum Object Lessons for the Digital Age, London: University College London Press 2018
Hans Scheurer / Ralf Spiller (Hgg.): Kultur 2.0. Neue Web-Strategien für das Kulturmanagement im Zeitalter von Social Media, Bielefeld: transcript 2010
Birgit Gaiser / Thorsten Hampel / Stefanie Panke (Hgg.): Good Tags - Bad Tags. Social Tagging in der Wissensorganisation, Münster: Waxmann 2008
Hinter dem etwas manieriert wirkenden Titel der hier besprochenen Publikation verbirgt sich eine subtile Analyse der Wirkung des Neoimpressionismus auf das deutsche Kunstgeschehen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Der auch Postimpressionismus oder Divisionismus genannte Stil hatte in Frankreich eine streng geregelte, idealerweise ganz auf naturwissenschaftlicher Erkenntnis fundierte Kunstpraxis hervorgebracht, die in Deutschland auf einen interessanten Nährboden fiel. Von den am common sense orientierten Kritikern, die Kunst auf die Funktion festlegten, die Dingwelt wiedererkennbar werden zu lassen, als artifiziell gebrandmarkt, von den Völkischen als flacher westlicher Ideologie verbunden denunziert und damit deutschem Tiefsinn unzugänglich, finden die Seurats und Signacs doch gerade dort Widerhall, wo es um die ästhetische Bildung des Volkes geht und wo zu diesem Zwecke Industrie, Kunstgewerbe und Bildende Kunst im Sinne einer "art social" zusammengespannt werden. Uhlig erläutert das am Fall zweier Ausstellungen im Krefelder Kaiser Wilhelm Museum (65ff.) und verweist zu Recht darauf, dass auch schon die Franzosen mit der quasi industriellen Produktionsweise des Neoimpressionismus einen sozialrevolutionären Anspruch verbanden.
Dass der Neoimpressionismus in der Avantgardekunst dann eine in der wissenschaftlichen Literatur gewöhnlich tendenziell verleugnete Rolle spielt, kann Uhlig nicht nur belegen, sie zeigt auch die Plausibilität dieser Rolle auf. Adaptionen und Umdeutungen sind allerdings in diesem Prozess von zentraler Bedeutung. Wenn der frühe, aber schon im Horizont der Abstraktion agierende Kandinsky sagt "Ich will die vorne liegenden Rosen und Blumen nicht aus gewöhnlichen pointillistischen Gründen pointillieren, also 'Mischung im Auge' u. dg. sondern will dadurch psychische Resultate erreichen" (99), so entwertet er damit tendenziell das divisionistische Verfahren, verschärft aber eine künstlerische Wirkungsabsicht, die in abstrakten Kompositions- und Farbwirkungen bereits bei Seurat die Gestimmtheit eines Bildes hervortreiben sollte. Nur die Grobheit dieser Wirkungsabsicht schien Kandinsky unzulänglich, und er ersetzte sie durch eine weniger schematische Bildanlage. Auch der Kirchnersche Expressionismus scheint - das wird aber weniger deutlich, wenn auch ausführlicher thematisiert - eher auf dessen frühe divisionistische Praxis als den immer wieder herangezogenen Einfluss van Goghs zurückzuführen zu sein.
A propos: Neben dem Gewinn, den der Leser aus der Spezialstudie zur Entstehungsgeschichte der Moderne in Deutschland ziehen kann, sind auch die Ausführungen zu einem leidigen, da üblicherweise auf durchwegs theoretisch unzureichendem Niveau reflektierten Zentralbegriff der Kunstgeschichtsschreibung bemerkenswert: das Konzept des Einflusses, das wohl als ein fundamentales der kunstgeschichtlichen Wissenschaft zu gelten hat. Der hier vorherrschenden mechanistischen Vorstellung setzt die Verfasserin eine tiefsinnige, vor allem auch philosophisch und literarhistorisch inspirierte Umdeutung entgegen, die schlichte Linearität durch komplexes Wechselspiel ersetzt und dieses in der Deutung ihrer Protagonisten erprobt. Einer Kritik wird dabei insbesondere die Vorstellung vom "Initialereignis" unterzogen, das in der weiterhin vielfach in einer Aneinanderreihung von genialischen Donnerschlägen denkenden Kunstgeschichte immer wieder als Auslöser von Innovationen herhalten muss. Dass "Innovation abhängig von einer Fülle an Bildern und Gesehenem [ist], die sich im Bildgedächtnis des Künstlers überlagern" (95), dürfte eine adäquatere Vorstellung von dem vermitteln, was künstlerische Phantasie ausmacht.
Zu kritisieren bleibt allenfalls, dass das Buch durch den permanenten Verweis auf Autoren der Sekundärliteratur etwas mühsam zu lesen ist. Immerhin: Schon nach 140 Seiten ist alles vorbei, und man hat nicht den Eindruck, dass das Thema nicht ausgeschöpft worden wäre.
Hubertus Kohle