Philippe Kaenel / Rolf Reichardt (Hgg.): Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. und 19. Jahrhundert, Hildesheim: Olms 2007, XI + 849 S., ISBN 978-3-487-13001-9, EUR 59,00
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Die Aufsatzsammlung zur Druckgrafik im 18. und 19. Jahrhundert beeindruckt schon vor der Lektüre durch ihren Umfang: 35 Beiträge in drei Sprachen (15 auf Deutsch, je 10 auf Englisch und Französisch) auf über 800 Seiten. Den Band als Fundgrube zu bezeichnen, suggerierte eine Unordnung, die dem Konzept nicht gerecht würde, doch zu finden gibt es tatsächlich außerordentlich viel Interessantes, darunter oft vom kunstwissenschaftlichen Mainstream bislang Unbeachtetes. Dies mag u.a. daran liegen, dass die Autorinnen und Autoren des Bandes nicht nur aus der Kunstgeschichte, sondern auch aus den Literatur- und Geschichtswissenschaften kommen (841-849): Die Aufsätze gehen auf einen interdisziplinären, vom schweizerischen Centro Stefano Franscini auf dem Monte Verità bei Ascona im Jahre 2002 veranstalteten einwöchigen Workshop zurück. Es war ein Anliegen der Veranstalter und Herausgeber, der Druckgrafik in ihren vielfältigen Erscheinungsformen als einem vernachlässigtem Grenzgebiet zwischen Kunstgeschichte, Fachhistorie, Medienwissenschaft, Soziologie und Philologie ein Forum zu verschaffen (Vorwort, IX).
In dieser Aufzählung fehlt die Mediengeschichte. Dennoch ist das Buch ein wichtiger Beitrag zu ihr, wird die Druckgrafik doch als ein Medium vorgestellt, das in einer historischen Schlüsselstellung Wissen, politische Ansichten und Bildideen vermittelt. Zahlreiche Beiträge behandeln die Rezeptionspraxis der Druckgrafik - so untersucht etwa Joachim Rees die Sekundärverwertung in Reisetagebüchern, Evanghelia Stead die internationalen Nachstiche der Faust-Illustrationen von Moritz Retzsch und David Kunzle die unautorisierten Wilhelm-Busch-Ausgaben in den USA - oder reflektieren in ihren jeweiligen Einleitungen die Rolle der Druckgrafik im Vergleich mit anderen Medien. So werden die Wanderwege einzelner Motive und Darstellungen anschaulich gemacht; die abstrakt-summarische Idee von der Druckgrafik als Distributionsmedium von Bildideen bekommt in diesen Studien eine greifbare Kontur. Auch wird deutlich, dass sich kaum von der Druckgrafik und dem Publikum sprechen lässt, sind doch eher spezifische Inhalte, Medien, Genres und Zielgruppen miteinander in Beziehung zu setzen. Auf diese oftmals vernachlässigten Zusammenhänge aufmerksam zu machen, ist deshalb ein Verdienst des Bandes, den man als gutes Beispiel dafür verstehen darf, dass der Ansatz der Visual Culture (vgl. 32) präzise Ergebnisse liefern kann. Jeder Beitrag schließt mit einem eigenen kurzen schwarz-weißen Abbildungsteil von etwa fünf bis acht Illustrationen ab, deren Qualität variiert - dies ist gerade für feinere Grafiken schade, aber im Allgemeinen stellen die Abbildungen doch eine ordentliche Arbeitsgrundlage dar.
Den Band leiten zwei Beiträge der Herausgeber Rolf Reichardt und Philippe Kaenel inhaltlich ein, in denen der spezielle Forschungsstand des heterogenen Fachgebietes skizziert wird. Reichardt schlägt den Begriff der Interpikturalität als zur Intermedialität komplementären vor (15). Er zielt damit auf den Reichtum an Varianten der Bildrezeption, die sich aufeinander beziehen und an ihre jeweiligen Öffentlichkeiten anpassen. Hier hätten sich vielleicht schon Ideen Warburgs produktiv einbringen lassen, doch deutet Kaenel in seinem Beitrag dies immerhin an, indem er, von einem Stich Balthasar Anton Dunkers ausgehend, grundsätzliche Überlegungen zur Stellung der Druckgrafik um 1800 anstellt. Die weiteren Aufsätze wurden von den Herausgebern in drei Themenblöcke geordnet: "Austausch" mit 10, "Geschichten und Figuren" mit 12 sowie "Reproduktion" mit 11 Aufsätzen. [1]
Der erste Themenblock fasziniert durch die Vielfalt der berührten Sachgebiete: Geografie, Mode, Sozialgeschichte, Tagespolitik. Erhellend sind hier vor allem die Beiträge, die nicht nur spezifische druckgrafische Genres vorstellen, sondern auch untersuchen, welche gesellschaftlichen Gruppen unter welchen historisch-politischen Bedingungen für bestimmte Rezeptionsformen verantwortlich sind. So befasst sich beispielsweise Mary Sponberg Pedley mit der Rolle der Hugenotten für den druckgrafischen Kulturtransfer von Landkarten. Pierre Wachenheim macht auf die wichtige Rolle der Niederlande als Freistatt für politisch problematische Publikationen aufmerksam. Stéphane Roy geht auf die sich ändernden politischen Bedingungen der Verbreitung von Porträts während der einzelnen Phasen der Französischen Revolution ein. Christian Deuling unternimmt Ähnliches in seiner Untersuchung der Weimarer Zeitschrift London und Paris, deren wichtige Rolle auch in anderen Aufsätzen immer wieder zu Sprache kommt. Auch kunstsoziologische und rezeptionsästhetische Aspekte der Druckgrafik finden Beachtung, etwa wenn Susanne Anderson-Riedel sich dem Status der Graveure an der französischen Akademie widmet und herausstellt, dass diese u.a. den "frischen" Ersteindruck alter, zwischenzeitlich patinierter Kunst wiederherstellen sollten. Unfreiwillige Aktualität erhält Wolfgang Cillessens Beitrag zur Ikongrafie der Wirtschaftskrise am Beispiel des Börsenkrachs von 1720.
Im zweiten Themenblock zu "Geschichten und Figuren" - nicht immer scharf vom ersten Themenblock abzugrenzen - bildet die Karikatur der Revolutionszeit einen Themenschwerpunkt (und damit auch einen des gesamten Buches). Hier ergeben sich vor allem an den Schnittstellen unerwartete Bezüge zwischen Hoch- und Massenkunst, etwa in der Tierikonografie mit Motivwanderungen vom Bestiarium zur politischen Karikatur und einer Ikonografie nationaler Stereotypen (Annie Duprat und David Bindman). Ein weiteres Leitmotiv bildet in diesem Zusammenhang das Thema der grenzüberschreitenden Karikatur, zum Beispiel bei der Darstellung französischer Revolutionen in England (Fabrice Bensimon) oder in den Beiträgen, die sich mit dem Verhältnis deutscher, französischer und englischer Karikaturen und deren internationaler Rezeption zwischen Kopie und Anspielung auseinandersetzen (William A. Coupe, Remigius Brückmann).
Der dritte Teil des Bandes mit den Aufsätzen zu Fragen zum Status der Druckgrafik zwischen Original und Reproduktion berührt ein Feld, das ein wachsendes wissenschaftliches Interesse verzeichnen kann. Michel Melot fasst gelehrt die ambivalente Position der Druckgrafik zwischen den Konzepten von Original und Reproduktion zusammen; weitere Beiträge gehen den Fragen anhand ausgewählter Beispiele nach. So untersucht Christian Michel, wie das Bewusstsein des historischen Abstands zwischen Vorlage und Reproduktion dazu führte, letztere als Übersetzungen zu verstehen. Aber auch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Druckgrafik wird beachtet, etwa im Beitrag Christoph Franks zum Grafikhandel in Wien Ende des 18. Jahrhunderts oder in der Abhandlung Joëlle Raineaus, in der sie die Diskussion des Qualitätsverfalls der Druckgrafik um 1800 aufarbeitet und in einen Zusammenhang mit dem wachsenden Markt setzt: Nicht immer sind ökonomischer Wert und Sammlerwert uneingeschränkt konvertibel, und nicht immer spiegelt der intellektuelle Diskurs die soziale Wirklichkeit.
In der Regel verraten die Beiträge des Sammelbandes ein hohes Maß an Sorgfalt im Umgang mit den Quellen; die seltenen Ausreißer trüben den Gesamteindruck nur geringfügig. Beispielsweise ist in einem französischen Beitrag auf Seite 127 offensichtlich ein ursprünglich in Fraktur gesetzter deutscher Text fehlerhaft transkribiert worden und im instruktiven Beitrag von Alberto Milano zu Riesen und Zwergen auf Flugblättern mit unterschiedlichen Funktionen (Poster, Sensationsnachricht, Eintrittskarte und Souvenir) steht wiederholt "than" statt "then" (377ff.). Derartige Ungenauigkeiten wären vermeidbar gewesen. (An dieser Stelle an ein Verlagslektorat alter Schule zu erinnern, ist zwar unheilbar romantisch, muss aber erlaubt sein.) Schade ist, dass ein Register fehlt; hilfreich vor allem für internationale Leserinnen und Leser ist hingegen der Abschnitt mit den englischen Zusammenfassungen (821-840), wobei zwei der "Abstracts" nicht aus dem Deutschen ins Englische übersetzt wurden und zwei weitere ganz fehlen.
In diesem Sammelband wird keine Kunstgeschichte der großen Namen verhandelt; es geht nicht um Hogarth oder Goya. Ausnahmen bilden die Beiträge zur differenzierten Rolle der Medienstrategien bei Millet (Ségolène Le Men) und van Gogh (Michael F. Zimmermann). Der Band ist auch keine allgemeine Einführung (wie Kaenel auf Seite 32 bemerkt), sondern behandelt das Thema der europäischen Druckgrafik im 18. und 19. Jahrhundert in oft speziellen Einzelstudien. Etwas anderes kann von einem Tagungsband auch kaum erwartet werden. Insofern richtet das Buch sich zunächst an Spezialisten. Es ist aber über die besonderen Perspektiven seiner Einzelbeiträge hinaus auch für diejenigen ein Gewinn, die sich generell mit dem Thema intensiver auseinandersetzen und ein Gespür für die Komplexität des Mediums der Druckgrafik jenseits enger Fachgrenzen entwickeln möchten. In diesem Band werden sie viele Anregungen finden.
Anmerkung:
[1] Das vollständige Inhaltsverzeichnis ist beim Südwestdeutschen Bibliotheksverbund unter http://swbplus.bsz-bw.de/bsz26189689xinh.htm und bei Google Books unter http://books.google.com/books?id=2Kh9D7cpyLAC&printsec=frontcover&hl=de#PPR5,M1 abrufbar; unter letzterer URL ist auch eine Vorschau auf Inhalte des Buches möglich.
Grischka Petri