Rezension über:

Georg Modestin (Hg.): Quellen zur Geschichte der Waldenser von Straßburg (1400-1401) (= Monumenta Germaniae Historica. Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters; Bd. 22), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2007, X + 287 S., ISBN 978-3-7752-1022-5, EUR 38,00
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Georg Modestin: Ketzer in der Stadt. Der Prozess gegen die Straßburger Waldenser von 1400 (= Monumenta Germaniae Historica. Studien und Texte; Bd. 41), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2007, XIX + 169 S., ISBN 978-3-7752-5701-5, EUR 25,00
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Rezension von:
Rita Voltmer
Fachbereich III, Universität Trier
Redaktionelle Betreuung:
Christine Reinle
Empfohlene Zitierweise:
Rita Voltmer: Der Prozess gegen die Straßburger Waldenser 1400 (Rezension), in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 5 [15.05.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/05/12963.html


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Der Prozess gegen die Straßburger Waldenser 1400

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Georg Modestin muss bereits seit seiner 1999 erschienenen Lizentiatsarbeit zu frühen Hexereiverfahren in der Diözese Lausanne sowie aufgrund zahlreicher Aufsatzpublikationen als ein ausgewiesener Kenner der spätmittelalterlichen Inquisition, bischöflicher wie itineranter päpstlicher Prägung gelten. Darüber hinaus hat sich der Autor als methodisch feinsinnig und akribisch arbeitender Editor von Prozessakten erwiesen, deren spezifischer, inhärenter Konstruktionscharakter einen besonders sensiblen quellenkritischen Umgang erfordert. Vor diesem Hintergrund scheint es geradezu konsequent, dass Modestin mit seiner 2005 von der Philosophischen Fakultät der Universität Freiburg in der Schweiz (Prof. Ernst Tremp, Prof. Hans-Joachim Schmidt) angenommenen und 2007 gedruckten Dissertation ein Meisterstück gelungen ist. Inspiriert besonders von der mustergültigen Edition und Analyse der Freiburger Waldenserprozesse der Jahre 1399 und 1430 durch Kathrin Utz-Tremp, präsentiert Modestin jene einschlägigen Verfahren, die 1400 in Straßburg gegen eine Waldensergemeinde geführt worden sind, pragmatisch und sich gegenseitig ergänzend in zwei Bänden: Während das relevante Quellendossier (vorwiegend Prozessakten und ergänzende Stücke wie beispielsweise ein Urfehdeprotokoll), welches Modestin überdies durch mehrere Stücke ergänzen konnte, editionstechnisch hervorragend aufbereitet in einem Band geschlossen vorgelegt wird, findet sich die Auswertung separat publiziert. Diese Aufteilung erscheint ausgesprochen sinnvoll, zumal sich beide Bände auch unabhängig von einander nutzen lassen.

Gleichwohl empfiehlt es sich, zunächst die Quellenedition zu konsultieren; denn hier erfährt man - sauber aufbereitet und verständlich geschrieben - Grundlegendes zur Kodikologie der Akten sowie zu Datierung und Rezeption der fraglichen Verfolgung. Zwar liegen die Straßburger Waldenserprozesse bereits seit 1855 in einer von Timotheus Wilhelm Röhrich besorgten Edition vor, doch genügte diese nicht mehr den modernen Ansprüchen, zumal Röhrich nicht das gesamte Material publiziert hatte: In der Annahme, es handele sich um Dubletten, ließ er wichtige Teile der Voruntersuchung einfach weg - eine für die Interpretation des Prozessherganges allerdings nicht unerhebliche Unterlassung (1-5). Zwei der von Modestin neu aufgefundenen Stücke erlauben es jetzt auch, die Zahl der ergangenen Urteile auf 27 festzulegen (Urfehdeprotokoll vom 3. April 1400). Ein Brief des Straßburger Rates vom 13. April 1400 an die Stadt Bern bietet überdies einen Blick auf die Ereignisse aus der Perspektive der städtischen Obrigkeit.

Dass die Straßburger Waldensergemeinde schließlich in der protestantisch geprägten Forschung des 19. Jahrhunderts gerne als "vorreformatorische" Bewegung interpretiert, ja als mittelalterliche Glaubenszeugen funktionalisiert wurde, macht besonders das Kapitel zur Rezeptionsgeschichte deutlich (24-51). Am Anfang dieser Geschichtsklitterungen steht - wie so oft in der Straßburger Geschichtsschreibung - der als ausgesprochen unzuverlässig einzustufende vermeintliche "Berichterstatter" (und Festungsbaumeister) Daniel Specklin, der in seiner letztlich doch nicht publizierten Straßburger Chronik mit lutherischer Polemik unverhohlen ein entsprechend düsteres Bild von den "sittlichen" und kirchlichen Zuständen in der Reichsstadt vor der Reformation zeichnet. Specklin, der aus Johannes Geiler von Kaysersberg den Propheten Luthers stilisierte (eine Zuschreibung, an die manche noch heute glauben), kann daher auch nicht an dem Waldenserprozess ohne einschlägige Erfindungen vorbeigehen: So seien die Verhörten gefoltert worden und die Dominikaner hätten, wenn nicht gar Verbrennung, so doch zumindest ihre Verbannung ohne Gerichtsverfahren gefordert (33).

Beschlossen wird die Edition durch die Biographien der Straßburger Waldenserinnen und Waldenser, so weit sie Modestin nach akribischer Recherche aus den Prozessakten und anderen Quellen zusammenstellen konnte (207-270).

Befreit von ausufernden Quellenzitaten, zeigt sich dann Modestins Analyse der Waldenserverfahren - präsentiert im zweiten Band seiner Dissertation - zugleich kompakt und doch detaillfreudig, ausgestattet mit mehreren übersichtlich gestalteten Tabellen, die den komplizierten, nicht völlig lückenlos zu rekonstruierenden Prozessverlauf (Voruntersuchung, 28f.), die als häretisch eingestuften Glaubenssätze (45f.), die 32 Einzelverhöre in Konkordanz (56-63) oder auch die einer Hauptzeugin in den Mund gelegten Glaubenssätze (68f.) veranschaulichen. Gerade die gründliche kodikologische Aufarbeitung der Prozessakten hilft Modestin jetzt entscheidende Erkenntnisse zu gewinnen: Das in der Voruntersuchung gesammelte Material wurde nachgehend in einer redaktionell bearbeitenden Abschrift zusammengefasst, bei der spezifische Inhalte übersichtlicher gestaltet und verdeutlicht wurden. Vor allem sollten die häretischen Glaubenssätze in gestraffter, berichtigter und ergänzter Form festgehalten werden. Besonderes Gewicht wurde jetzt dem leitmotivisch immer wieder herausgestellten Mord an einem abtrünnigen Waldenser beigelegt (51-53), eine verfahrensrelevante Nachbesserung in der Abschrift, denn dieser Mord legitimierte die Übernahme des Verfahrens durch den Straßburger Rat.

Indem Modestin den verwirrenden Duktus der Überlieferung aufbricht, gelingt ihm der Versuch einer perspektivenreichen Rekonstruktion der Ereignisse: Die Straßburger Waldensergemeinde muss als eine zunehmend sowohl von außen als von innen bedrohte Gemeinschaft angesehen werden. Zum einen verschärfte sich der äußere Druck, zum Teil durch wandernde Inquisitoren, wenngleich es sich nicht um eine konzertierte Aktion gegen deutsche Waldenser handelte. Bereits in Stettin (1392-1394), Mainz (1390, 1392 und 1393), Augsburg (1393), Bern (1399) und Freiburg i. Ü. (1399) waren entsprechende Verfahren angestrengt worden. Auch die Straßburger Waldenser hatten schon vor 1400 die Aufmerksamkeit von Inquisitoren geweckt, konnten jedoch zunächst unbehelligt bleiben bzw. wurden in der ersten Hälfte der 1390er Jahre während einer heimlichen Massenabschwörung vom Inquisitor Nikolaus Böckeler lediglich zu Bußen verurteilt. Dies war den umtriebigen Aktionen des so genannten Ketzerschirmers Johann Blumstein zu verdanken, der wohl dem Patriziat angehörte und der es durch Überredungen und Drohungen schaffte, die Inquisitoren zum Einlenken zu bewegen. Erst die Predigten des Basler Dominikanerkursors Peter Mangold im Advent 1399 schreckte sowohl die Straßburger Waldensergemeinde wie auch den Rat der Stadt nachhaltig auf. An die offensichtlich bislang geübte Duldung der Waldenser war nun nicht mehr weiter zu denken. Auch konnte weder die schützende Hand Blumsteins ein Verfahren aufhalten, noch stopften seine einschüchternden Maßnahmen das Informationsleck innerhalb der Gemeinde. In diesem Kontext arbeitet Modestin klar die eigentlichen Motive der Straßburger Obrigkeit heraus: Es ging weit weniger um die Wahrung religiöser Normen, als um die Rettung der städtischen Ehre. Schließlich wollte die Reichsstadt nicht in den zweifelhaften Ruf eines "Ketzernestes" geraten. Auf Nachfrage redete der Rat gegenüber Bern deshalb auch das Ketzerproblem klein.

Von innen heraus scheint der Zusammenhalt der Waldensergemeinde allerdings ebenfalls schon seit längerem gebröckelt zu haben: Einige ihrer Mitglieder - stets zur Tarnung und damit zur Teilnahme am offiziellen christlichen Gemeindeleben verpflichtet - litten an erheblichen Zweifeln. Vorschub erhielt diese Müdigkeit im als häretisch eingestuften Glauben durch eine seit mindestens zehn Jahren andauernden Diaspora, in der kein Waldenser-Meister, kein Beichtiger bzw. (diffamierend so bezeichneter) Winckeler die Mitglieder mehr besucht hatte. Bereits in den 1370er Jahren sollte sich die Gemeinde gar aus Selbstschutz verschworen und drei Männer angeheuert haben, die einen abtrünnig gewordenen, zur Enttarnung und Missionierung weiterer Waldenser verurteilten Konvertiten ermordeten. Für das Verbrechen waren allerdings zwei Unschuldige vom Straßburger Ratsgericht verurteilt worden. Die demonstrative Wiederaufnahme dieses schon länger zurückliegenden Verfahrens gab dem Rat jetzt allerdings die nötige Handhabe, den Prozess gegen die Waldenser unter seine Jurisdiktion (zu Lasten des bischöflichen Gerichts) zu stellen. Eindeutig besaß damit der Ketzerprozess auch eine Funktion in den Bemühungen der städtischen Obrigkeit um Autonomie und Emanzipation von bischöflicher Oberhoheit und fügt sich ein in andere bekannte Maßnahmen des Straßburger Rates, die geistlichen Gerichte zu entmachten.

Der Straßburger Rat ließ sich bei der strafrechtlichen Verfolgung der wohl nur eingeschränkt als heimlich zu bezeichnenden Waldensergemeinde offensichtlich von kühlem Pragmatismus leiten: Zunächst erfolgte die flächendeckende Befragung der Straßburger Pfarrgeistlichkeit nach etwaigen auffällig gewordenen Gemeindemitgliedern. Die dabei vom Pfarrer zu Alt St. Peter erlangte Denunziationsliste diente als erste Basis für die Vorladung verdächtiger Personen. Darüber hinaus gelang es dem Rat, fünf Gewährsfrauen aus der Mitte der Waldenser selbst zu verhören, denen man bei entsprechender Gesprächsbereitschaft offensichtlich Straffreiheit zugesichert hatte. Ihre Namen hatte der Rat vom Kursor der Basler Dominikaner, Peter Mangold, erhalten; die Angaben der Frauen im Advent 1399 sollen ihn zu seiner Anti-Ketzer-Predigt motiviert haben. Drei der Gewährsfrauen - Mutter und zwei Töchter - scheinen aus Augsburg gestammt zu haben, wo der Vater nur knapp der Verbrennung entgangen war. Deren Aussagen - nicht zuletzt auch ein deutliches Zeichen für den inzwischen brüchig gewordenen Zusammenhalt der Gemeinde - bildeten die Grundlage für die nachfolgenden Untersuchungen; damit lieferten die fünf Kronzeuginnen jene "häresiologische Matrix" (S. 32), mit welcher aus den insgesamt 32 Verhörten überhaupt erst die später 27 verurteilten "Ketzer" selektiert werden konnten.

Anders als Specklin behaupten sollte, gibt es keinen Hinweis dafür, dass die verhörten Waldenser gefoltert worden sind. Andere aussagefördernde Maßnahmen - sieht man von der Kronzeugenregelung ab - sind ebenfalls nicht bekannt. An einer Ausweitung der Verfahren scheint der Rat jedenfalls nicht interessiert gewesen zu sein. Immerhin, 21 der 27 angeklagten Personen wurden zu ewiger Verbannung aus dem Bistum verurteilt; sechs Personen kamen mit milderen Urteilen davon. Die Verbrennung rückfällig gewordener Ketzer (relapsi), als welche man sie nach schärferen Verhören mit einem (erzwungenen) Eingeständnis erneuter Abtrünnigkeit durchaus hätte verurteilen können, war offenbar nicht das Ziel. Begründet wurden die Urteile ganz im Sinne der weltlichen Gerichtsbarkeit: Ihr ketzerisches Treiben habe der Stadt Schmach und Unehre gebracht, nicht zuletzt weil der von ihnen in Auftrag gegebene Mord zur Verurteilung und Hinrichtung von zwei Unschuldigen geführt hätte (71). Auch sah der Rat von "Sippenhaftung" ab. Weder scheinen die fünf Gewährsfrauen, noch der so stark belastete Blumstein belangt worden zu sein. Es gelang ihm eine Fortführung seiner Karriere im Dienst der Stadt (sogar bis an den päpstlichen Hof), bei seinem Tod hinterließ Blumstein ein umfangreiches Vermögen und allem Anschein nach waren er und seine Kinder zum "wahren" Glauben zurückgekehrt. Die zweifelhafte Rolle allerdings, welche er als nachweislich unbehelligt gebliebener "Ketzerschirmer" in dem Verfahren spielte, lässt sich jedoch trotz vieler biographischer Details nicht hinreichend klären und lädt zu Spekulationen ein.

Insgesamt gelingt es Georg Modestin, das Verfahren gegen die Straßburger Waldenser aus einer Vielzahl von Perspektiven zu beleuchten. So spürt er den Protagonisten sowohl in ihrem sozialen und religiösen "häretischen" Milieu wie auch als vorgebliche Mitglieder der christlichen Gemeinde und als durchaus integrierte Teilnehmer am politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben Straßburgs nach (87-123). Die Strategien der Abschließung werden deutlich: endogame Eheschließungen, Auswahl der Bediensteten, ähnliche Gewerbe bzw. Handwerke (vor allem aus dem Textilgewerbe), sozialtopographische Konzentration (hauptsächlich in der Pfarrei Alt St. Peter). Nicht zuletzt wieder durch seine sorgfältig abwägende Interpretation der verschiedenen Entstehungsstadien des Quellendossiers und im Vergleich mit den in anderen Verfolgungsräumen geschaffenen Interrogatorien kann Modestin die spezifischen, allerdings auch in der Abschrift redaktionell vereinheitlichten Glaubensvorstellungen der Straßburger Waldenser herausarbeiten (124-149).

Darüber hinaus nimmt Modestin die Spur zumindest einiger weniger Straßburger Waldenser nach ihrer Verbannung auf: Höchstwahrscheinlich getrieben von dem Wunsch, sich wieder in ein entsprechendes soziales und religiöses Umfeld zu begeben, scheinen einige sich nach Freiburg i. Ü. zurückgezogen zu haben. Dies und die weiteren Straßburger Ereignisse verweisen darauf, dass trotz obrigkeitlicher, bischöflicher und inquisitorischer Suche und Verfolgung es einigen Waldensern doch gelungen ist, unentdeckte Netzwerke und Kontakte weiter aufrechtzuerhalten (150-154).

Georg Modestin sind mit der Edition und Analyse der Straßburger Waldenserprozesse vorbildliche Beiträge zur Grundlagenforschung gelungen. Besonders die methodisch sensible Interpretation der Prozessakten überzeugt. Das jeweils mit einem Namenindex versehene zweibändige Gesamtwerk bietet sich durch seine sehr gute Aufarbeitung darüber hinaus auch zum exemplarischen Einsatz in Unterricht und universitärer Lehre an.

Rita Voltmer