Kurt Flasch: Dietrich von Freiberg. Philosophie, Theologie, Naturforschung um 1300, Frankfurt/M.: Vittorio Klostermann 2007, 717 S., ISBN 978-3-465-03301-1, EUR 119,00
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30 Jahre nach dem Beginn der historisch-kritischen Ausgabe der Werke Dietrichs von Freiberg publiziert Kurt Flasch eine monumentale intellektuelle Biographie des deutschen Philosophen aus dem Dominikanerorden. Flasch, der einer Generation von Mediävisten durch seine fesselnden Einführungen die Geschichte der mittelalterlichen Philosophie nahebrachte, hat das Editionsprojekt seinerzeit initiiert und einige Jahre federführend geleitet. Für die Abfassung einer derart anspruchsvollen Gesamtdarstellung hätte also kein geeigneterer Autor gefunden werden können. Flasch ist jedoch nicht nur der beste Kenner der Materie, er hegt auch offene Sympathien mit dem philosophischen Ansatz des Freibergers. Dietrich war in erster Linie ein kritischer Geist, der nicht das Ziel des Aufbaus einer systematischen Philosophie verfolgte, sondern vielmehr die vorliegenden philosophischen Systeme in konzentrierten und dichten Abhandlungen zu Detailfragen in Zweifel zog. Flasch benennt diese Vorgehensweise als Nachlese: was seine Vorgänger (insbesondere Thomas von Aquin) bei der Konstruktion ihrer Summen übersehen hatten, will Dietrich aufgreifen und einer durchgreifenden Analyse unterziehen.
Seine Schriften, 27 an der Zahl, sind allesamt überschaubar und machen insgesamt vier Bände des Corpus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi aus. Flasch analysiert diese Abhandlungen Argument für Argument und bettet den Beitrag Dietrichs in den Kontext seiner Zeit ein. Relevant sind dafür vor allem die Werke des Thomas sowie die Diskussion um den Aristotelismus, der sich nach der Verurteilung von 1277 in der Debatte zwischen Gottfried von Fontaines, Aegidius Romanus, Heinrich von Gent und den Anhängern des Thomas entfaltete. Dietrich hielt sich zweimal in Paris auf, zum Studium sowie zum Unterricht (ca. 1272 und ca. 1296/7), und verstand sein Werk als Beitrag zu dieser Debatte. Anders als Thomas ist er nicht zu Kompromissen mit den Erfordernissen einer sich als Wissenschaft verstehenden Theologie bereit, sondern verlangt nach einer philosophischen Lösung von philosophischen Problemen. Diese Haltung steigert sich nach Flasch in Dietrichs späteren Abhandlungen zu schroffer und mit Spott gemischter Ablehnung: "Souverän lächelnd und von oben herab belehrend [...] kann er sich nur wundern über eine so inkonsequente Philosophie" (273).
Nach einer Skizze der Biographie sowie einem Überblick über die "intellektuellen Situationen 1270-1300" untersucht Flasch die Position Dietrichs in zwei Hauptteilen: "Grundriß der Philosophie" (109-342) und "Ausbau: Ontologie - Theologie - Naturforschung" (345-689). Die Abhandlungen Dietrichs werden bis in die feinsten Verästelungen rekonstruiert und der spezifische Beitrag des Freibergers überzeugend herausgearbeitet. Als durchgehende Leitlinie seines Denkens hebt Flasch die Feststellung von per-se Verhältnissen hervor. Dietrich ist von dem antiken Vertrauen in die kosmische Stabilität der Weltordnung durchdrungen. Es ist kein Zufall, dass Dietrich eine lange und unter Spezialisten wohl bekannte Abhandlung zum Regenbogen, dem Symbol für den Bund mit dem Gott des Alten Testaments, verfasste und diesen erstmals einer überzeugenden wissenschaftlichen Erklärung unterzog. Auch in anderen Abhandlungen gelangt er in Auseinandersetzung mit Aristoteles, Averroes und Thomas immer wieder zu überaus originellen Positionen.
Wie sich die optimistische Sicht einer stabilen Weltordnung mit der christlichen Überlieferung verträgt, interessiert Dietrich offenbar ebenso wenig wie Flasch. Bibelzitate sind auch in scheinbar theologischen Abhandlungen wie "De corpore Christi mortuo" oder "De substantiis spiritualibus et corporibus futurae resurrectionis" eine Seltenheit. Es wäre von Interesse gewesen, wenn Flasch die (zugegebenermaßen spekulative) Frage gestellt hätte, welche Art von Theologie Dietrich offengestanden wäre und wie er seinen Aristotelismus mit der christlichen Überlieferung in Einklang hätte bringen können. Über die positive Explikation theologischer Dogmen äußert sich Dietrich nur in der Form von vorsichtigen Hypothesen.
Flasch stempelt Dietrich dennoch durchgehend zu einem Rebellen, der "das Kampfspiel gegen das intellektuelle Prestige und den Einfluß des Thomas von Aquino in Paris und im Orden der Dominikaner" verloren habe (253). Dietrich wollte "der westlichen Christenheit ein erneuertes Selbst- und Weltverständnis ermöglichen, das er jetzt durch Inkonsequenzen und Banalisierungstendenzen großer Lehrer bedroht sah" (692). Flasch urteilt resignativ: "Eine Chance wurde vertan". Zweifel an diesem pauschalen Urteil scheinen berechtigt. Immerhin gehörte der Dominikanerorden, in dessen Verwaltung Dietrich Karriere machte, wie die Inquisition und das römische Papsttum zu den großen Gewinnern des 13. Jahrhunderts. Die These, Dietrich habe "die Christenheit bedroht" gesehen "durch inkonsequentes Denken" (693), entspringt eher den Wertungen des Biographen als den Äußerungen des Autors. Trotz dieses Vorbehalts ist nicht daran zu zweifeln, dass Flasch ein weiteres beeindruckendes Werk vorgelegt hat, das große Beachtung finden wird.
Karl Ubl