Rezension über:

Iris Ritzmann: Sorgenkinder. Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, X + 320 S., ISBN 978-3-412-20149-4, EUR 39,90
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Rezension von:
Daniel Schäfer
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Universität zu Köln
Redaktionelle Betreuung:
Julia A. Schmidt-Funke
Empfohlene Zitierweise:
Daniel Schäfer: Rezension von: Iris Ritzmann: Sorgenkinder. Kranke und behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 6 [15.06.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/06/14361.html


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Iris Ritzmann: Sorgenkinder

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Die medizinhistorische Erforschung der vormodernen Kinderheilkunde beschränkte sich über lange Zeit auf die Analyse gedruckter normativer Quellen, aus denen das Bild einer medizinischen Fortschrittsgeschichte mit ärztlicher Perspektive entwickelt wurde. Dagegen erhob Philippe Ariès in seiner "Geschichte der Kindheit" vor fast 50 Jahren den Vorwurf, Kinder hätten bis weit in die Frühe Neuzeit hinein keinen besonderen Stellenwert in der Gesellschaft gehabt, und zahlreiche Vertreter der Sozialgeschichte folgten ihm bis in die 1990er Jahre. Gegen beide Forschungstraditionen wendet sich die Züricher Privatdozentin Iris Ritzmann in ihrem ursprünglich als Habilitationsschrift unter dem Titel "Kranke Kinder im 18. Jahrhundert" (2004) abgefassten Werk, indem sie aufgrund anderer, patientenorientierter Quellen ein facettenreiches Bild von einer insgesamt dem kranken und behinderten Kind zugewandten Gesellschaft zeichnet.

Ritzmann fokussiert ihre Untersuchung auf das quellenreiche 18. Jahrhundert und auf ärmere Bevölkerungsschichten; als Ärztin und Historikerin verbindet sie genuin medizinhistorische Forschungsansätze eindrucksvoll mit zahlreichen Fragestellungen u.a. zur Professionalisierungs-, Medikalisierungs- und Disziplinierungsdebatte, zur Genderforschung, Pflege- und Körpergeschichte.

Die gut gegliederte Untersuchung geht zunächst umfassend auf den Forschungsstand bis zum Jahr 2006 ein (allenfalls nachzutragen wäre ein einschlägiger Wolfenbütteler Tagungsband [1]), bevor die Autorin ihre handschriftlichen Quellen - vor allem Krankenjournale aus Zürich und Bern, Bittschriften nebst Gutachten zur Aufnahme in Hessische Spitäler und Waisenhausakten - sowie gedruckte normative Literatur vorstellt. Methodisch will sie mit der Diversifizierung von Quellen und deren regionaler Verteilung einer "Überbetonung örtlicher Spezialfälle" (22) entgegentreten. Allerdings konnte die Autorin aus Gründen mangelnder Überlieferung fast nur Quellen aus protestantischen Einrichtungen einsehen.

Es folgt eine erfreulich umfassende Darstellung der vormodernen "Protopädiatrie" (39), die das Kind als inkomplettes und daher von Krankheit besonders bedrohtes, warm-feuchtes bzw. übersäuertes Wesen apostrophierte, das von Anfang an insbesondere der regelmäßigen (inneren) Reinigung und einer besonders guten Diät bedurfte. Ritzmann vermutet in den zahlreichen, oft sich widersprechenden Fachprosa-Darstellungen allerdings nur ein "literarisches Phänomen": Ärzte als Verfasser einschlägiger Schriften hätten kaum mit der praktizierten "Kindermedizin" zu tun gehabt. Vielmehr erhebt die Autorin diskursanalytisch den Befund einer unter der Fahne der Aufklärung operierenden ärztlichen Bevormundung der Bevölkerung, insbesondere aber der Frauen und nicht-akademischen Heiler, unter dem ökonomisch motivierten Druck zur Monopolisierung und Abgrenzung gegenüber der Konkurrenz.

Mit in der Tat nur wenigen herausgearbeiteten Bezügen zu diesem "literarischen Phänomen" untersuchen die folgenden vier Kapitel (Kap. 3-6) die pädiatrische Praxis auf der Basis der oben genannten Quellen. Dabei kommen jeweils zahlreiche Einzelkasuistiken zur Sprache, die die besondere Attraktivität des gesamten Buches ausmachen und teils zu statistischen Übersichten zusammengefasst werden. Unter der Überschrift "Heilkundige für Kinder" (Kap. 3) beschreibt Ritzmann zunächst die Funktion von "Laienheilern", "irregulären" Heilerinnen und Heilern, anerkannten Heilkundigen sowie von dem institutionellen Pflege- und Heilpersonal. Dabei geht sie auch auf die von der Bevölkerung praktizierte Auswahl geeigneter Heiler in bestimmten Situationen von Krankheit und Behinderung ein.

Das folgende vierte Kapitel mit der missverständlichen Überschrift "Orte der Kinderbetreuung" geht vor allem - nach einer Problematisierung der retrospektiven Diagnose - auf Krankheitsspektren ein, die erst sekundär räumlich diversifiziert werden in: 1. häusliche Versorgung; 2. vormoderne "Krankenhäuser"; 3. traditionelle Hospitäler. Als Aufnahmegrund in Institutionen ermittelt die Autorin neben medizinischer Notwendigkeit auch ökonomische Motive sowie soziale Abwehr, insbesondere bei verunstalteten Kindern.

Hochinteressant ist auch das fünfte Kapitel über kinderspezifische Behandlungen, das je nach Ursache und Leiden ein breites Spektrum therapeutischer Möglichkeiten aufdeckt. Ritzmann stellt insbesondere anhand des Krankenjournals des Zürcher Spitalchirurgen Johann Rudolph Burkhard von 1781-83 ein breites Feld chirurgischer Eingriffe vor. Burkhard nahm auf Befindlichkeiten seiner Kinderklientel besondere Rücksicht und hatte erstaunlichen Erfolg: Mehr als 80% seiner kleinen Patienten konnte er als geheilt oder gebessert entlassen. Am Beispiel Albrecht von Hallers wird hingegen die frustrane ambulante Behandlung internistischer Leiden durch den zeitgenössischen akademischen Arzt (bei durchweg höheren Bevölkerungsschichten) analysiert. Verhältnismäßig selten nachgewiesene magische sowie religiöse Praktiken, die durch Votivgaben häufig dokumentiert sind, kommen aufgrund der Quellenauswahl dagegen nur am Rande zur Sprache. Zum Schluss dieses langen Kapitels erwähnt Ritzmann noch einzelne Beispiele von Fehlbehandlungen von Kindern und deren juristische Ahndung sowie Behandlungsunterlassungen, die in der ärztlichen normativen Literatur den Eltern genauso vorgeworfen wurden wie eine "Verzärtelung der Kinder". Ritzmann macht überzeugend klar, dass die Angehörigen auch bei einfachen Bevölkerungsschichten Kosten und Mühe nicht scheuten, wenn es um das Wohl ihrer Kinder ging, auch wenn sie gelegentlich den Nachwuchs in die Privatsphäre zurückbrachten.

Ein eigenes (sechstes) Kapitel ist den Kinderpatienten in Waisenhäusern gewidmet. Hier handelte es sich um eine besondere Klientel von 6-14jährigen, die nicht unbedingt verwaist, aber ohne familiäre Bindungen als "Verwahrloste" diszipliniert wurden. Eine medizinische Behandlung kranker "Waisen" fand in den Häusern zwar statt, war aber aus ökonomischen Gründen oft nur unter sehr eingeschränkten Bedingungen möglich.

Trotz der Hebung und konzisen Analyse von so viel faszinierendem Quellenmaterial zur vormodernen Kinderheilkunde, mit denen Ritzmann unstrittig große Verdienste erworben hat, seien noch vereinzelte Ungereimtheiten und kleine Schattenseiten erwähnt, deren Ursachen hauptsächlich im diskursanalytischen und theoretischen Überbau der Arbeit zu suchen sind. Dem Rezensenten leuchtet beispielsweise nicht die Verbindung zwischen Taufe und innerer Reinigung der Neugeborenen jenseits einer rein metaphorischen Ebene ein. Ähnliches gilt auch für die in der Zwischenüberschrift plakativ formulierte, aber im folgenden Text dann nicht weiter ausgeführte "Verschmutzung [des Neugeborenen] durch den Frauenkörper" (78). Die Reinigung nach der Geburt lässt sich zwanglos den zeitgenössischen Konzepten von der Bedeutung der Hauttranspiration zuordnen; andernorts zweifellos vorhandene misogyne Anwandlungen finden sich an dieser Stelle nachgeburtlicher Pflegeempfehlungen meines Wissens nicht und sollten dann auch nicht suggeriert werden.

Überhaupt kommen studierte Ärzte in Ritzmanns "literarischem" Kapitel relativ schlecht weg. Zwei Ursachen für die von der Autorin treffend geschilderten argumentativen Inkonsistenzen und den Verdikten gegen konkurrierende Heiler sollten noch in Betracht gezogen werden, um ihnen im historischen Kontext etwas gerechter zu werden: Zum einen sind Ärzte auch noch im 18. Jahrhundert der literarischen Tradition verpflichtet, die sie zu einem Spagat zwischen Realität und überliefertem Wissen zwingt. Zum andern sollte man die akademische Streitkultur bedenken, die allen studierten Ärzten durch das vorausgehende Artes-Studium und die Disputationen im Unterricht vermittelt wurde und zu der fast obligat die rhetorisch überbordende Verunglimpfung der Andersdenkenden gehörte. Ohne Kenntnis oder Berücksichtigung dieser Umgangsformen im öffentlichen Austausch kommt man zu krassen Fehleinschätzungen der dahinterstehenden Kenntnisse und Absichten.

Problematisch ist auch das (allerdings verbreitete) Verdikt über Rousseaus Philosophie als einer Lehre, "die kranken und schwächlichen Kindern kein Überlebensrecht einräumt" (50). Die entsprechenden Zitate aus dem "Emile" (62) lassen sich zwar so deuten, laufen aber an der Gesamtanlage des Romans völlig vorbei: Rousseau wählt sich für den Erziehungsroman aus didaktischer und darstellungstechnischer Absicht bewusst ein imaginäres Modell, unterscheidet diese virtuelle Anlage aber klar von der Realität, in der für alle Kinder gleichermaßen eine Fürsorgepflicht besteht.

Und schließlich soll auch noch das (von der Autorin freilich sehr vorsichtig formulierte) Ergebnis, dass kranke und behinderte Kinder im Allgemeinen auch von unteren Schichten mehr beachtet wurden, als dies bisher in der Forschung wahrgenommen wurde, kritisch hinterfragt werden. Für die untersuchten Quellen trifft dies zweifellos zu, doch fragt sich schon, ob nicht die im Vergleich zur hohen Mortalität und dem hohen Bevölkerungsanteil geringe Aufnahmequote von Kindern in den Spitälern auch gegenteilige Schlüsse erlauben. Die rhetorisch verbrämte und interessengeleitete Anschuldigung der Bevölkerung in den normativen Texten, sich um die eigenen Kinder nicht adäquat zu kümmern, ist gewiss ein schwaches Gegenargument zu Ritzmanns These; es kann durch ihre Arbeit letztlich nicht entkräftet, wohl aber relativiert werden.

Man spürt dem bei aller Kritik hervorragenden und für die Patientengeschichte beispielhaften Buch von Ritzmann jenseits aller (reichlich vorhandenen) Wissenschaftlichkeit an, dass das Schicksal der historischen "Sorgenkinder" ihr persönlich nahe steht. Das macht das Buch (gemeinsam mit zahlreichen großformatigen Abbildungen) auch für nicht professionelle (Medizin-)Historiker anziehend und leicht lesbar. Ein vorzügliches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie das umfassende Orts-, Personen- und Sachregister runden den sorgfältig redigierten Band bestens ab.


Anmerkung:

[1] Klaus Bergdolt / Berndt Hamm / Andreas Tönnesmann (Hgg.): Das Kind in der Renaissance. Wiesbaden 2008.

Daniel Schäfer