Alois Unterkircher: Jungen und Männer als Patienten bei einem Südtiroler Landarzt (1860-1900) (= Medizin, Gesellschaft und Geschichte. Jahrbuch des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung; Beiheft 51), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2014, 392 S., 18 Abb., 26 Grafiken, ISBN 978-3-515-10612-2, EUR 62,00
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Das vorliegende Buch stellt die Überarbeitung einer Dissertationsschrift dar, die Alois Unterkircher 2012 an der philosophisch-historischen Fakultät der Universität Innsbruck einreichte. Die Arbeit wurzelt letztlich in einem umfangreichen Editionsprojekt (2002-2007), als dessen Ergebnis die 244 lateinischen Praxistagebücher (Historiae morborum) des Südtiroler Arztes Franz von Ottenthal (1818-1899) in einer online zugänglichen medizinhistorischen Datenbank [1] veröffentlicht wurden. 2009-2012 war dann die nähere Erforschung von Ottenthals Aufzeichnungen Teil eines umfangreichen DFG-Projekts "Geschichte der Ärztlichen Praxis im 17.-19. Jahrhundert" mit drei Teilprojekten aus Österreich und der Schweiz [2]. Im Zusammenhang mit diesem internationalen Vorhaben ist neben der vorliegenden Arbeit fast zeitgleich auch eine Dissertation von Marion Baschin [3] zu einer Arztpraxis derselben Epoche in der gleichen Buchreihe des Stuttgarter Instituts für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung erschienen. Doch während Baschin als Mitarbeiterin dieses Instituts eine städtische, alternativmedizinische Praxis untersuchte, widmete sich Unterkircher in Innsbruck einer schulmedizinisch orientierten Landpraxis in Südtirol.
Trotz dieser Unterschiede weist auch Unterkirchers Buch enge Bezüge zur Stuttgarter Forschungseinrichtung auf, indem es Ottenthals Praxistagebücher auf den Aspekt "Männergesundheit" hin untersucht, ein Forschungsschwerpunkt, der im Besonderen am Robert Bosch Institut bei Martin Dinges angesiedelt ist. Dazu existieren für das 19. Jahrhundert abgesehen von Forschungen zu Homosexualität und Onanie bislang nur wenige Einzelstudien (15, Anm. 23); eine völlig andere Massenquelle (u.a. 24 Briefwechsel im Zeitraum 1800-1885) wertete die ebenfalls am Robert Bosch Institut entstandene Dissertation von Nicole Schweig [4] bezüglich des Gesundheitsverhaltens von Männern aus.
Die vorliegende Studie überzeugt durch einen klaren, solide begründeten Aufbau. Die Einführung (Kap. 1) leitet überraschend deutlich die wesentlichen Forschungsfragen von aktuellen Diskursen ab: Jungen und Männer sind demnach als Klientel in Arztpraxen unterrepräsentiert, sorgen sich angeblich weniger um ihre Gesundheit und haben eine dementsprechend geringere Lebenserwartung. Ihr "hegemoniales Männlichkeitsmodell" (15) sei mit einem unterentwickelten Körperbewusstsein eng verknüpft. Unterkircher hinterfragt hier und bei ähnlichen Vergleichen zur Gegenwart in späteren Kapiteln kritisch solche Klischees (einschließlich der entsprechenden soziologischen Männerdiskurse) und insbesondere ihre retrospektive Projektion auf den Beginn der Moderne. Von einer Auswertung der Massenquelle Historiae morborum erwartet er außerdem - trotz deren ärztlicher Autorschaft - einen (indirekten) Zugriff auf die Patientenperspektive innerhalb einer ansonsten weitgehend schriftlosen Kultur.
Das zweite Kapitel bietet auf der Basis zusätzlicher Primär- und Sekundärquellen eine sehr gründliche Darstellung von "geschlechtsspezifischen Lebenserwartungen, Mortalitäten und Morbiditäten" (58), aber auch von Produktions- und Lebensbedingungen sowie der medizinischen Versorgung in der Region (Tauferer Ahrntal, vergleichsweise auch (Süd-)Tirol sowie Zisleithanien). Damit präsentiert es Hintergrundwissen und Rahmenbedingungen bezüglich des Patientenkollektivs Ottenthals. Dabei offenbart sich u.a. nicht nur eine fast überall nachweisbare geringere Lebenserwartung von Männern gegenüber Frauen im 19. Jahrhundert (gender gap), sondern auch geschlechtsübergreifend ein verzögerter Rückgang der Sterblichkeit speziell in der Bezirkshauptmannschaft Taufers.
Im Hauptteil (Kap. 3) gliedert Unterkircher seine männerzentrierte, aber darüber hinaus auch erfreulich (quantitativ wie qualitativ) breite medizinhistorische Analyse von zwei Jahrzehnten der Historiae morborum (1860-69 und 1890-99, insgesamt knapp 30.000 Laufnummern und ein Vielfaches an Patientenkontakten) nach vier Altersgruppen. Andere Einteilungen nach sozialen Kriterien wie Beruf oder Personenstand, die für die Fragestellung hochrelevant gewesen wären, ließen sich mit der vorliegenden Quelle leider nicht realisieren. Bei der Gruppe der Neugeborenen und Säuglinge (bis 1 Jahr; Kap. 3.1) überwogen vor allem in den ersten Lebensmonaten männliche Patienten, während ab dem 7. Lebensmonat (und auch fortlaufend bis ins hohe Alter) fast immer mehr weibliche vorstellig wurden. Als Ursache für ersteres diskutiert der Autor in erster Linie biologische Einflüsse, nämlich die höhere peri- und neonatale Morbidität und Mortalität männlicher Nachkommenschaft. Für die höhere weibliche Morbidität gegen Ende des ersten Lebensjahres macht er hingegen soziokulturelle Faktoren aus, insbesondere ein früheres Abstillen weiblicher Säuglinge. Darauf deute auch generell der höhere Anteil weiblicher Erkrankter in dieser Altersstufe hin, weil die Mehrzahl aller Säuglinge in Ottenthals Praxis an Brechdurchfällen litt, oft eine Folge künstlicher Ernährung. Wie der Autor selbst eingesteht, entziehen sich aber die geschlechtsspezifischen Mortalitäten und Anfälligkeiten für bestimmte Krankheitsbilder simplen Verallgemeinerungen (150).
Auch bei der Analyse der älteren Kinder (Kap. 3.2), die (freilich aufgrund der temporären Seuchen in sehr unterschiedlichem Ausmaß) ebenfalls eine höhere Konsultation von Mädchen offenbart, schließt Unterkircher mit Blick auf deren höhere Mortalität insbesondere an Tuberkulose und Keuchhusten auf geschlechtsspezifische Benachteiligungen: Sie mussten im Gegensatz zu Jungen deutlich mehr häusliche Arbeiten (einschließlich der Krankenpflege) verrichten und konnten sich daher womöglich weniger immunologisch "abhärten". Eine demgegenüber höhere Unfallrate der Buben fällt weniger ins Gewicht.
Wie in vielen anderen ärztlichen Praxen der Epoche stellten Erwachsene ab dem 14. Lebensjahr (Kap. 3.3) den Großteil von Ottenthals Klientel (> 85 %, davon die Mehrzahl im mittleren Alter zwischen dem 25. und 45. Lebensjahr). Typisch für den ländlichen Raum bildeten Geschlechtskrankheiten, aber auch die Onanie Raritäten; im Vordergrund standen weiterhin Infektionskrankheiten insbesondere des Magen-Darm-Bereiches, während die Tuberkulose im (über-)regionalen Vergleich auffallend unterrepräsentiert war. Allerdings zeigt sich an ihrem Beispiel besonders deutlich, wie schwierig retrospektive Diagnosen sind, zumal der Arzt Ottenthal sich meist auf Symptombeschreibungen (z.B. Husten, Auswurf) beschränkte. Speziell bei Männern im mittleren Lebensalter nahmen Unfälle sowie Beschwerden im Muskel-Skelett-System zu, was auf starke Arbeitsabnutzung hinweist (231). Gerade bei älteren Erwachsenen zeigten sich in der Arztpraxis auch Folgen des Militärdienstes in Kriegs- und Friedenszeiten.
Die letzte Altersgruppe der über 65-Jährigen (Kap. 3.4) offenbart schließlich eine deutliche Veränderung zwischen den beiden untersuchten Dezennien: Im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurden von Ottenthaler deutlich mehr alte Menschen (ca. 14 anstelle 8 Prozent; insbesondere mehr Frauen, letzteres wahrscheinlich Folge eines verstärkten demographischen gender gaps) behandelt. Unterkircher bringt diese Entwicklung mit lokalen Abwanderungsbewegungen Jüngerer in Verbindung; außerdem könnte der 1890 schon über 70-jährige Arzt einer älteren Klientel stärker entsprochen haben. Nicht überraschend ging bei dieser Altersgruppe der Anteil der Infektionskrankheiten zurück, während chronische Erkrankungen zunahmen, speziell bei Männern auch Prostatabeschwerden.
Eine konzise Zusammenfassung (Kap. 4) beschließt den Band; allerdings kann auch sie die Frage, warum nicht nur im hohen Alter, sondern auch bei den übrigen Erwachsenen Frauen als Patientinnen in der ärztlichen Praxis deutlich dominieren, nicht schlüssig beantworten. Die eingangs vorgestellten theoretischen Überlegungen, dass die schon früher für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts nachgewiesene "Inanspruchnahmelücke der Männer" (M. Dinges) womöglich doch auf einer "Medikalisierung des weiblichen Körpers" oder einem "unterentwickelten männlichen Körperbewusstsein" beruhen, lässt sich mit dem vorliegenden Material nicht überzeugend be- oder widerlegen. Überhaupt erweckt das für einen Medizinhistoriker unglaublich spannende und sorgfältig ausgewertete Quellenmaterial den Eindruck, dass es aufgrund der komplexen Situierung (Arztperspektive, freiwillige Konsultation mit Arztwahl, Mischung genetisch-biologischer, infektiologischer und sozialer Krankheitsfaktoren) und der regional besonderen Situation im entlegenen Südtirol sich für eine differenzierte Erörterung des Themas Männergesundheit eigentlich wenig eignet, zumindest, solange soziale Parameter nicht berücksichtigt werden können und vor allem die weibliche Klientel nicht kontrastiv mitbetrachtet wird. Womöglich erklären nämlich schwangerschafts- und geburtsbedingte Leiden einen Teil des gender gaps in der Praxis. Ferner fällt aus moderner medizinisch-wissenschaftlicher Perspektive auf, dass trotz der zahllosen quantitativen Angaben, trotz der vielen Tabellen und Graphiken dennoch wesentliche statistische Angaben, nämlich Standardabweichung und Irrtumswahrscheinlichkeit bzw. Signifikanz der gewonnenen Aussagen, nicht angegeben werden. Diese methodische Aufbereitung ist bei historischen Arbeiten bislang nicht üblich, wäre aber bei der Auswertung von Massenquellen unbedingt erforderlich, um als Forscher und Leser die gewonnenen Ergebnisse besser beurteilen zu können.
Ungeachtet dieser Einzelkritik ist das Buch von Alois Unterkircher ein Meilenstein für die Erforschung von Arztpraxis, Patienten- und Krankheitsspektrum und sicher auch für die Regionalgeschichte Südtirols in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Gleichzeitig erscheint es durch die häufige Anknüpfung an gegenwärtige Fragestellungen auch für Zeithistoriker außerordentlich lesenswert. Ein vorzügliches Quellen- und Literaturverzeichnis (leider ohne Sachregister) runden den sorgfältig redigierten Band bestens ab.
Anmerkungen:
[1] http://www.uibk.ac.at/ottenthal/deutsch/
[2] Vgl. Martin Dinges / Kay-Peter Jankrift / Sabine Schlegelmilch / Michael Stolberg (Hgg.): In the doctor's office: Medical practice in 17th to 19th century Europe. Clio medica (im Druck)
[3] Marion Baschin: Ärztliche Praxis im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts - der Homöopath Dr. Friedrich Paul von Bönninghausen (1828 - 1910). Stuttgart 2014.
[4] Nicole Schweig: Gesundheitsverhalten von Männern. Gesundheit und Krankheit in Briefen, 1800-1950. Stuttgart 2009.
Daniel Schäfer