Anne I. Hardy: Ärzte, Ingenieure und städtische Gesundheit. Medizinische Theorien in der Hygienebewegung des 19. Jahrhunderts (= Kultur der Medizin. Geschichte - Theorie - Ethik; Bd. 17), Frankfurt/M.: Campus 2005, 414 S., ISBN 978-3-593-37895-4, EUR 45,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Dominik Groß: Beiträge zur Geschichte und Ethik der Zahnheilkunde, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006
Michael Stolberg: Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Joël Chandelier: Avicenne et la médecine en Italie. Le Canon dans les universités (1200-1350), Paris: Editions Honoré Champion 2017
Holger Steinberg: Als ob ich zu einer steinernen Wand spräche. Der Nervenarzt Paul Julius Möbius. Eine Werkbiographie, Bern: Verlag Hans Huber 2005
Eduard Seidler / Karl-Heinz Leven: Geschichte der Medizin und der Krankenpflege, 7., überarb. und erw. Auflage, Stuttgart: W. Kohlhammer 2003
Elisabeth Dietrich-Daum: Die "Wiener Krankheit". Eine Sozialgeschichte der Tuberkulose in Österreich, München: Oldenbourg 2007
Gunther Hirschfelder: Alkoholkonsum am Beginn des Industriezeitalters (1700-1850). Vergleichende Studien zum gesellschaftlichen und kulturellen Wandel. Bd. 1: Die Region Manchester, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2003
Werner Lengger: Leben und Sterben in Schwaben. Studien zur Bevölkerungsentwicklung und Migration zwischen Lech und Iller, Ries und Alpen im 17. Jahrhundert, Augsburg: Wißner 2002
Anne I. Hardy untersucht in ihrer Dissertation den Einfluss medizinischer Theorien beim Ausbau der gesundheitsrelevanten Infrastruktur in deutschen Städten während der Urbanisierung. Rapides Bevölkerungswachstum zur Zeit der Industrialisierung stellte die Städte vor mannigfaltige hygienische Probleme, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter dem Stichwort "Assanierung" systematisch angegangen wurden. Dazu gehörten in den Städten neben der zentralen Trinkwasserversorgung sowie der Abwasser- und Müllbeseitigung auch die Straßenreinigung, die Errichtung von Schlachthöfen und Desinfektionsanstalten, ferner die Gewährleistung gesunder Nahrungsmittel und - mit erheblicher Verzögerung - die kommunale Wohnungsfürsorge; sogar die Reduzierung städtischen Lärms wurde unter diesen Begriff subsumiert. Gesundheit und Krankheit galten nicht länger als Schicksalsfrage, sondern man glaubte, sie durch Verbesserungen der Umweltbedingungen positiv beeinflussen und vorbeugend eingreifen zu können, in erster Linie indem man eine aufwendige sanitäre Infrastruktur schuf.
Neuere Studien zu dieser Thematik haben wiederholt betont, dass der Einfluss medizinischer Theorien in diesem Prozess lange Zeit überschätzt wurde. Anne I. Hardy versucht, diese These nun systematisch zu verfolgen. Als theoretischen Zugang nennt die Autorin im Wesentlichen die Sozialgeschichte, erweitert um wissenschaftsgeschichtliche Aspekte. Im weit ausholenden ersten Teil der Arbeit wird versucht, dies auf der Basis der vorliegenden Forschungsliteratur zu belegen. Insbesondere die Cholera sei keineswegs Auslöser der sanitären Reformen gewesen, sondern beschleunigte allenfalls bereits geplante Vorhaben. Entsprechend waren in diesem Zusammenhang vor allem Ingenieure treibende Kraft hinter dem Ausbau der Infrastruktur. Im zweiten Teil der Arbeit wird die These weiter untermauert. Im Fokus steht dabei die Auswertung der 1869 gegründeten "Deutschen Vierteljahrsschrift für öffentliche Gesundheitspflege", dem Fachorgan des Vereins für öffentliche Gesundheitspflege, in dem sich vornehmlich Ingenieure, Kommunalpolitiker und Ärzte zusammenschlossen, um die praktische Ausgestaltung der Städtetechnik zu diskutieren. Hier werden noch einmal die gesamte Bandbreite des Hygienediskurses und der geringe Einfluss der Medizin, selbst der Bakteriologie, beim Ausbau der städtischen Infrastruktur deutlich.
Insgesamt handelt es sich bei der Dissertation um eine ausführliche und detailreiche Darstellung der Thematik. Kritisch anzumerken bleibt allerdings, dass einige Standardarbeiten aus dem weiteren Themenbereich nicht berücksichtigt wurden [1, 2]. Dann wäre auch deutlich geworden, dass die Relativierung der Rolle der Medizin und der Mediziner in der Forschung seit geraumer Zeit etabliert ist und sich der Forschungsstand so holzschnittartig, wie von der Autorin unterstellt, schon lange nicht mehr darstellt.
Anmerkungen:
[1] Reinhard Spree: Soziale Ungleichheit vor Krankheit und Tod. Zur Sozialgeschichte des Gesundheitsbereichs im Deutschen Kaiserreich. Göttingen 1991.
[2] Paul Weindling: Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870-1945. Cambridge 1989.
Jörg Vögele