Sabine Schlegelmilch: Ärztliche Praxis und sozialer Raum im 17. Jahrhundert. Johannes Magirus (1615-1697), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2018, 352 S., 8 Farb-, 22 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-51119-7, EUR 50,00
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Die von Sabine Schlegelmilch vorgelegte Arbeit stellt einen Baustein für die Geschichte der ärztlichen Praxis dar. Die Autorin untersucht die Tätigkeit des Arztes Johannes Magirus (1615-1697), dessen Aufzeichnungen in dem von der DFG geförderten Gemeinschaftsprojekt "Ärztliche Praxis (17.-19. Jahrhundert)" die zeitlich am frühesten datierenden Dokumente waren. Seit der Abschlusstagung 2012 konnten die Projektpartner mehrere diesbezügliche Publikationen vorlegen, in die sich diese Monographie einreiht. [1]
Bereits der Titel der Arbeit "Ärztliche Praxis und sozialer Raum" verweist auf die gewählten Konzepte, die die Autorin ihren Überlegungen zugrunde legt (16). Viele der bisher zu diesem Thema vorliegenden Studien untersuchen die ärztliche Praxis entweder biographisch durch den ausübenden Arzt oder wissenschaftshistorisch durch dessen Verortung im Fachdiskurs. Schlegelmilchs Ziel ist es, den "durch das Handeln eines Arztes strukturierten Praxis-Alltag" (12) anhand seiner Aufzeichnungen sichtbar zu machen und die auf die Praxis einwirkenden Faktoren von Staat und Gesellschaft aufzuzeigen. Entsprechend klar ist der Aufbau ihrer Arbeit mit präzisen Schwerpunkten: dem Arzt als Handelndem (Kapitel 1), dem Handlungsort (Kapitel 2), der Handlungspraxis (Kapitel 3) sowie dem Handlungswissen (Kapitel 4). Dabei verdient der Abschnitt über den "Aufbau der Darstellung" große Beachtung (19-27). Auf wenigen Seiten werden überzeugend die leitenden theoretischen Konzepte, praxeologische und raumtheoretische Elemente, Habitus- und Kapitalbegriff nach Bordieu, allgemein verständlich vorgestellt und hinsichtlich ihrer Relevanz bezüglich der historischen Praxis des Johannes Magirus fruchtbar gemacht.
Konsequent wird in Kapitel 1 Johannes Magirus nicht nur als Arzt vorgestellt. Es werden vielmehr seine Positionen als Gelehrter, Hofmann und Astrologe im sozialen Gefüge seiner Zeit beschrieben. Die sich ergebenden Verflechtungen zeigen deutlich, wie in der Position als Arzt verschiedene Aspekte der übrigen Positionen kulminierten, die Magirus die Ausübung seiner ärztlichen Praxis überhaupt erst ermöglichten.
Im Gegensatz zu heute ist die Arztpraxis des 17. Jahrhunderts kein ausschließlich lokal zu verortendes Gebilde. Vielmehr entstand sie dort, "wo Arzt und Patient aufeinandertrafen" (89). In Kapitel 2 werden die verschiedenen Orte von Magirus' Arbeit in Frankfurt/Oder, Berlin und Zerbst dargestellt. Die Patientenschaft und die ökonomische Basis der Praxis werden beschrieben. Durch den Vergleich mit weiteren Aufzeichnungen, insbesondere des Arztes Johann Bossen (1620-1673) aus Helmstedt, gewinnen die vorgestellten Daten an Tiefe. Ebenso werden Aspekte der Konfession, des medizinischen Marktes, von Hausbesuchen und Medikamentenverkauf gewürdigt.
Die aufschlussreiche Einbeziehung von Bossens Praxistagebüchern erfolgt auch in Kapitel 3 über die ärztliche Praxis. Dadurch wird besonders deutlich, wie stark die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit und der für handlungsleitend befundenen Konzepte von den individuellen Vorlieben und Schwerpunktsetzungen des jeweiligen Arztes abhingen. Penibel zeichnet die Autorin auf der Basis des Diariums von Magirus nach, welche Behandlungsschritte er vollzog, welche diagnostischen Techniken er anwandte und welche Therapien er daraus ableitete. Konstitutiv für Magirus' Praxis waren sein nüchterner rationaler Pragmatismus und die Iatromathematik. Denn die Planeten waren in ihrem Lauf und den ihnen zugeschriebenen Wirkungen auf die Welt unbeeinflussbar und berechenbar. Sie versprachen durch ihre Beobachtung und hierauf fußenden Berechnungen eine Deutung für die im Verborgenen stattfindenden Vorgänge im Körper. Dieses Erklärungskonzept wurde vom gelehrten Arzt und seinen Patienten gleichermaßen verstanden und akzeptiert.
Das "handlungsleitende Paradigma", mit dem die Ärzte oder besser der Arzt Magirus sein Tun gegenüber sich selbst und seinen Patienten rechtfertigte, steht in Kapitel 4 im Mittelpunkt. Auch hier folgt der Leser einer spannenden Rekonstruktion. In beachtlicher Detailgenauigkeit und grundlegender Kenntnis verschiedener Wissenskonzepte der Frühen Neuzeit wird nachgezeichnet, wie Magirus selbst Wissen erwarb, wie er es anwandte und wie er es an seine Schüler weitergab. Davon abgesehen, dass er seine Studenten mit an das Krankenbett nahm, hielt er seine Veranstaltungen in der Landessprache und beabsichtigte, sogar Frauen zu lehren. Schlegelmilch kann plausibel aufzeigen, dass das Konzept der "Scientific Revolution" für die untersuchte Zeit des 17. Jahrhunderts nicht angemessen ist (240-242 sowie 287). Die damals gültigen Wege, zuverlässiges und gesichertes Wissen zu erlangen, unterscheiden sich in mancherlei Punkten von dem heute gewohnten Vorgehen. Magirus maß seinem reflektierten Erfahrungswissen als praktischer und akademischer Arzt große Bedeutung zu. Dabei spielte das Experiment, so wie es heute verstanden wird, keine größere Rolle. Vielmehr ging es ihm um eine "präzise Beobachtung natürlich ablaufender Vorgänge" (241). Somit "mathematisierte" Magirus die Medizin und versuchte, seine Praxis anhand von mathematisch beschreibbaren Größen aufzubauen (287). Dafür wählte er als Lösungskonzept die Astrologie und schrieb dieser eine starke Rolle für die Diagnostik, Prognose und Therapie zu. Ein verblüffendes Ergebnis, war dieses konstitutive Element der ärztlichen Praxis doch im 18. Jahrhundert bereits wieder verschwunden und wird heute als abergläubisch abgelehnt (288-289).
Die methodisch vorbildliche Arbeit schließt mit einem Anhang von Quellentexten und Bildtafeln. Diese machen das Buch auch für Lehrende als Handreichung nützlich. Die Anhänge eröffnen dem nicht allzu sehr mit der Welt des Magirus' vertrauten Leser den Zugang zu den grundlegenden Aufzeichnungen. Dies gilt umso mehr als die Autorin ausgewählte Quellen aus dem Lateinischen übersetzt und die Biographie chronologisch übersichtlich aufbereitet.
Insgesamt nimmt Sabine Schlegelmilch den Leser auf eine faszinierende Reise ins 17. Jahrhundert mit. Dabei überrascht sie ihn stets aufs Neue mit den Erkenntnissen, die sie in beachtenswerter Akribie aus den unzähligen "Mosaiksteinen" (7, 233) gewonnen hat. Doch nicht allein deswegen ist dieses Buch überaus empfehlenswert. Es sei insbesondere denjenigen ans Herz gelegt, die die Entwicklung der ärztlichen Praxis nur allzu gern auf die heute als so unverrückbar geltende naturwissenschaftlich evidenzbasierte Medizin verengen wollen. Das Buch zeigt mehr als deutlich, dass allgemein anerkannte Lehrmeinungen ebenso einem Wandel unterliegen und wissenschaftliche Standards keine unveränderbaren Größen darstellen.
Anmerkung:
[1] Vergleiche den Internetauftritt des Forschungsverbundes unter http://www.medizingeschichte.uni-wuerzburg.de/aerztliche_praxis/index.html, Zugriff vom 02.09.2019. Sprecher waren Prof. Dr. Michael Stolberg (Würzburg) und Prof. Dr. Martin Dinges (Stuttgart). Zu den Publikationen der Teilprojekte Martin Dinges / Kay Peter Jankrift / Sabine Schlegelmilch / Michael Stolberg (eds.): Medical Practice, 1600-1900. Physicians and Their Patients, Leiden / Boston: Brill 2016 sowie Isabel Atzl / Roland Helms / Stephanie Neuner / Ruth Schilling (Hgg.): Praxiswelten. Zur Geschichte der Begegnung von Arzt und Patient, Ingolstadt: Deutsches Medizinhistorisches Museum Ingolstadt 2013.
Marion Baschin