Paul U. Unschuld: Was ist Medizin? Westliche und östliche Wege der Heilkunst, München: C.H.Beck 2003, 296 S., 4 Abb., ISBN 978-3-406-50224-8, EUR 19,90
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Die Geschichte der Medizin von der Antike bis in die Gegenwart hinein neu zu schreiben ist an sich bereits eine große Herausforderung. Dabei neben der westlichen Hemisphäre auch die Entwicklung der Medizin in China zu behandeln und das Ganze schließlich in ein Taschenbuch mit weniger als 300 Seiten zu packen ist ebenso anspruchsvoll wie mutig. Denn in Anbetracht der Vielfalt möglicher Perspektiven und der Heterogenität medizinhistorischer Ansätze der Gegenwart wird sich jede neue Gesamtdarstellung der Medizingeschichte fast zwangsläufig dem Vorwurf einer vergleichsweise einseitigen Sichtweise mit unangemessenen Verallgemeinerungen zu stellen haben.
Diese Einwände treffen auch für das neue Buch des Münchener Medizinhistorikers und Sinologen Paul U. Unschuld zu. Seine Rekonstruktion der "westlichen und östlichen Wege der Heilkunst" gleicht einem Parforceritt durch 2500 Jahre Geschichte des eurasischen Kontinents, bei welchem er seinen Lesern so manchen brüsken Schlenker zwischen West und Ost, historischen Epochen und Akteuren zumutet. Dabei verliert leider auch die eigentlich sehr interessante Ausgangsthese des Autors einen Großteil ihres heuristischen Werts: Medizinische Theorien jeder Epoche und geografischen Region erhalten ihre Überzeugungskraft nicht aufgrund der Überlegenheit ihrer Therapieformen, sondern infolge ihrer Übereinstimmung mit den sozialen, kulturellen und / oder gesellschaftlichen Normen und Werten ihrer Zeit. Die Entstehung und Fortentwicklung neuer medizinischer Ansätze ist keine Funktion des wissenschaftlichen oder gar therapeutischen Fortschritts, sondern der sich jeweils wandelnden soziokulturellen und insbesondere politischen Verhältnisse. Das ist die zentrale These dieses Buches.
Unschuld geht dabei von den folgenden Fragen aus: Wie entstehen Theorien zur Erläuterung der gesunden und kranken Zustände des menschlichen Organismus? "Genügt der Blick aufmerksamer Beobachter auf den Körper, um dessen innerste Funktionen zu erkennen? Besitzt der Körper ausreichend Aussagekraft, um uns die Deutungen nahe zu legen, die das medizinische Denken und Handeln begründen?" (9).
In der klassischen Medizingeschichte, die sich lange als Rekonstruktion der Abfolge einer fortschreitenden "Entdeckung" der objektiv gegebenen Natur begriff, wären diese mit Blick auf die "westliche Medizin" wohl eindeutig mit "Ja" beantwortet worden. Und viele Mediziner, aber auch Historiker, Soziologen, Ethnologen und andere Menschen, die sich mit "Medizin" beschäftigen, tun sich ja bis heute schwer, sich von dieser Sichtweise zu trennen. Paul Unschuld will damit radikal brechen: Medizinisches Wissen war und ist "Wahrschein" und nicht "Wahrheit" - in China und in Europa, in der Antike wie in der Gegenwart und ebenso zu allen Zeiten, die diese Epochen voneinander trennen. Medizinische Erklärungen sind nur scheinbar "wahr" und erhalten ihren "Wahrschein", "wenn sie die Lebenserfahrungen und die tatsächliche oder erwünschte Lebensumwelt der Menschen" widerspiegeln "und gleichzeitig die Kenntnisse von den realen Strukturen des Körpers" einbeziehen (9).
Der insgesamt chronologischen Anlage des Buches entsprechend widmet der Autor die ersten 28 der insgesamt 99 Kapitel der Erschaffung von Medizin in der chinesischen und griechischen Antike. Die Kategorie "Medizin" reserviert er dabei allein für jene Arten von Heilkunde, die sich auf eine "Naturwissenschaft" stützen (17 f.). Das ist jedoch ein eher schlichter Definitionsversuch, der insbesondere dem ehrgeizigen Titel des Buches ("Was ist Medizin?") nicht gerecht wird. Denn der großen Vielfalt anderer Arten des Umgangs mit Krankheit, insbesondere in der Grauzone zwischen den verschiedenen Arten "wissenschaftlicher Expertenmedizin" auf der einen Seite und populären medizinischen Praktiken auf der anderen, kann solch ein starres theoretisches Korsett kaum gerecht werden.
Im stetigen Wechselspiel zwischen antikem China und Griechenland versucht Unschuld zu zeigen, wie das Gesellschaftsmodell einer Zeit zunächst das Vorbild für die Deutung der allgemeinen Natur bietet (Entstehung einer "Naturwissenschaft"), aus welchem sich dann eine "Medizin" entwickeln kann. Selbst wenn das gesellschaftliche Vorbild verblasse, bestehe das Modell für den Körper möglicherweise fort (126). Für die chinesische Expertenmedizin der Antike gelingt dem Autor hier eine schlüssige Schilderung ihrer Entstehung und Fortentwicklung im Kontext der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit (26-36, 66-78): Die Sicht auf den menschlichen Körper als einer organischen Einheit aus hierarchisch geordneten, über Transportwege miteinander kommunizierenden Zentren, die nur bei der harmonischen Korrespondenz aller Einzelteile als Gesamtheit lebensfähig sei, spiegelt wichtige Prinzipien des nach langen Jahrhunderten des Chaos wieder geeinten Kaiserreiches der Han-Zeit wieder (ab dem 2. Jahrhundert vor Christus). Der zwischen die "chinesischen Kapitel" eingestreute Versuch, die Entstehung der antiken Medizin in Griechenland auf derselben Matrix zu erklären, ist dagegen weniger überzeugend gelungen. Zwar sind auch manche der hier ausgeführten Überlegungen durchaus spannend, sie bleiben aber insgesamt oberflächlich.
Nach dem Abschied von der Antike begibt sich der Verfasser auf einen sprunghaften Streifzug durch die folgenden 19 Jahrhunderte westlich-östlicher Medizingeschichte - immer auf der Suche nach Belegen für seine These: Wo kamen die Vorbilder her für die Veränderung, Weiterentwicklung oder gar Neuschaffung medizinischer Vorstellungen? So anregend die hier entwickelten Gedanken an manchen Stellen auch sein mögen, der rastlose Streifzug von Galen (141-142) über Xu Dachu und Morgagni (191-193) zu Paracelsus ("Wirrgeist mit Überblick", 202-205) und vielen weiteren Köpfen und "Meilensteinen" der Medizingeschichte ist ermüdend. Zur Ruhe kommt der Autor erst, als er auf Rudolf Virchow trifft (229-240).
Mit dem Blick auf AIDS (245-247) tritt der Autor dann in die globalisierte Gegenwart. Auf dem Weg zur Molekularbiologie als dem "Körperbild der Globalisierung" (281), mit der er das Buch beendet, nimmt er aber erneut einen Umweg über den Osten: Der im 19. Jahrhundert beginnende Transfer der "westlichen" Medizin nach China (248-254) und die Entstehung der "traditionellen chinesischen Medizin" im 20. Jahrhundert (256-278) werden ausführlich erörtert. Dabei vergisst der Autor auch den europäischen Patienten nicht, der "alleingelassen im Computertomographen" (267) der hoch technisierten "westlichen" Medizin überdrüssig wird und von einer "sanften" Alternative träumt.
Paul Unschuld macht es seiner Leserschaft mit diesem Buch nicht leicht. Vor allem der selbst mit angestrengtem Wohlwollen kaum noch als "pointiert" zu beschönigende Sprachstil erschwert die Lektüre. Was will der Autor mit seinen kurzen, abgehackten Satzfragmenten und Sprachspielchen im Sinne von Kapitelüberschriften wie "Banales von Thales" (39) oder "Händewaschen, Sauberkeit" (242) erreichen? Kann von einem so renommierten Autor nicht außerdem erwartet werden, unpassende Nebenbemerkungen wie das an politische Grabenkämpfe vergangener Jahrzehnte erinnernde, stramm antisozialistische Stakkato auf Seite 244 einfach zu unterlassen? Vieles ist außerdem aus älteren Arbeiten des Verfassers bereits bekannt (China) und insbesondere jenseits der Antike ist auch die Quellenlage alles andere als breit. Die Verweise auf weiterführende Literatur sind leider spärlich.
Auch die geringe Rezeption weiterer theoretischer Ansätze aus der Medizin- und Wissenschaftsgeschichte sorgt für einen etwas bitteren Beigeschmack. Allein Thomas Kuhns Thesen zur "Struktur wissenschaftlicher Revolutionen" werden kurz gestreift und für belanglos erklärt (198). Dort, wo es um das Verhältnis zwischen "Wahrschein", "Wahrheit" und die naturwissenschaftliche Basis von "Medizin" geht, schimmert außerdem ein ungeklärtes Verhältnis des Autors zur Frage des epistemologischen Status naturwissenschaftlicher Wissensbestände durch. Die Beiträge der "Science Studies" werden leider nicht zur Kenntnis genommen.
Trotz aller Einwände ist dieses Buch jedoch wert, gelesen zu werden. Denn der Zugang, den Unschuld wählt, um die Historizität medizinischer Theorien zu analysieren, ist originell: Zum einen, weil der Autor hier die in der deutschsprachigen Medizingeschichte noch eher unterrepräsentierte Perspektive des medizinischen Pluralismus anwendet und eine "exotische Heilkunde" wie die chinesische Medizin von der Peripherie ins erweiterte Zentrum holt. Zum anderen wagt es Unschuld, die am Beispiel einer "fremden" Medizin durchaus mit Erfolg ausgeführte Betrachtungsweise auch konsequent auf die "eigene" Medizingeschichte anzuwenden. Anders ausgedrückt: Die europäische Medizin muss sich dieselben kritischen Fragen gefallen lassen, wie sie in der Regel nur der chinesischen und anderen "fremden" Arten von Medizin zugemutet werden. Auf diese Weise ließe sich tatsächlich ein neuer und durchaus erfrischender Blick auf viele Aspekte der Medizingeschichte entwickeln.
Michael Knipper