Matthias Rogg: Armee des Volkes? Militär und Gesellschaft in der DDR (= Militärgeschichte der DDR; Bd. 15), Berlin: Ch. Links Verlag 2008, XIV + 687 S., ISBN 978-3-86153-478-5, EUR 39,90
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Kaum ein Bereich der Geschichte des zweiten deutschen Staates ist in den letzten zwei Jahrzehnten so gründlich erforscht worden wie sein Militär und die Militarisierung der DDR-Gesellschaft. Matthias Rogg hat nun mit seiner Potsdamer Habilitationsschrift die erste umfassende Darstellung zum Verhältnis von Militär und Gesellschaft in der DDR vorgelegt. Im Zentrum steht hier nicht allein die Frage, in welcher Beziehung "das Volk" zu "seiner Armee" stand, sondern auch wie sich Herrschaft in der DDR als soziale Praxis gestaltete. Dabei greift er auf ein beeindruckend breites Spektrum von Materialien zurück. Neben archivalischen Quellen unterschiedlichster Provenienz stützt sich seine Darstellung auch auf Film- und Fernsehproduktionen, Selbstzeugnisse und Belletristik sowie auf Zeitzeugenbefragungen und demoskopische Erhebungen. Dazu kommt die umfassende Auswertung der inzwischen recht umfangreichen Forschungsliteratur zum Thema.
Auf der Höhe der Forschung analysiert Rogg in acht Kapiteln die verschiedenen Facetten seines komplexen Untersuchungsgegenstandes. Die allgemeinen Entwicklungstendenzen und Probleme in den Streitkräften wie im zivil-militärischen Verhältnis werden dabei immer wieder am Beispiel der näher untersuchten Garnisonsstädte Wolfen und Bitterfeld konkretisiert und zum Teil recht plastisch dargestellt.
Die Untersuchung beginnt mit der Betrachtung des Selbst-, Freund- und Feindbildes der Nationalen Volksarmee (II.). Sodann werden die Strukturen und Formen der wehrpolitischen Mobilisierung betrachtet (III.). Innovativ ist dabei die breite Darstellung der unterschiedlichsten Spielarten militärpolitischer Öffentlichkeitsarbeit von der Präsentation des Militärs in Medien, Kunst und öffentlichem Raum über die "Patenschaftsarbeit" in Schulen und Betrieben bis hin zur Rolle von Traditionszimmern und "militärpolitischen Kabinetten".
Das IV. Kapitel thematisiert die Wehrmotivation der Jugendlichen und schildert anschaulich die chronischen Probleme sowie die oft nur als Nötigung zu charakterisierenden Methoden der "Gewinnung" von Berufs- und Zeitsoldaten. Endet dieses Kapitel mit der Verabschiedung der Jugendlichen zum Wehrdienst in den Schulen und Betrieben, so beginnt das folgende mit den ersten Eindrücken im "Objekt" und der abgeschlossenen, tristen Existenz in den Kasernen der NVA. Eindringlich schildert Matthias Rogg die umfassende Inpflichtnahme der Armeeangehörigen zur Aufrechterhaltung einer maßlos überzogenen Gefechtsbereitschaft, die damit verbundenen Dienstzeitbelastungen, die massiv eingeschränkte Gewährung von Ausgang und Urlaub sowie die mannigfaltigen Defizite der Unterbringung, Versorgung und Freizeitgestaltung. Diese Deprivationen fanden ihre soziale Entsprechung im rauen Klima zwischen Vorgesetzten und Unterstellten ebenso wie zwischen den unterschiedlichen Diensthalbjahren der Wehrpflichtigen und Zeitsoldaten. Gebetsmühlenartige politische Indoktrination sowie umfassende Überwachung und Disziplinierung steigerten die Unattraktivität des Soldatseins im real existierenden Sozialismus noch weiter. Die Sprache der Soldatensubkultur war folgerichtig voller Ablehnung und Verachtung gegen die Armee und ihre Funktionsträger (327 f.).
Lehnen sich die Kapitel II bis V zum Teil eng an den bereits vorhandenen Forschungsstand an, so wird mit den folgenden drei Kapiteln Neuland betreten. Das VI. Kapitel "Im Hinterland" thematisiert erstmals die Lebenswelt der Berufssoldaten und ihrer Familien, die Auswirkungen des militärischen Berufes auf das Privatleben sowie die zivil-militärischen Beziehungs- und Konfliktfelder am Standort. Kennzeichnend sei dabei ein "aseptisches Verhältnis" (447) zur zivilen Gesellschaft gewesen. So zogen es viele Offiziere vor, in der Freizeit Zivil zu tragen, um etwaigen Pöbeleien aus dem Weg zu gehen (446), während das Zusammentreffen oft gleichermaßen alkoholisierter Zivilpersonen mit Armeeangehörigen in Uniform nicht selten in verbale oder tätliche Auseinandersetzungen mündete (443).
Beliebter waren die Militärangehörigen, wenn sie als "Acker- und Fabriksoldaten" den chronischen Arbeitskräftemangel in bestimmten Wirtschaftsbereichen ausglichen oder als Katastrophenhelfer agierten. Kapitel VII konzentriert sich hier vor allem auf die Landwirtschaft, den Einsatz in der Braunkohle sowie auf Großbauprojekte wie den "Palast der Republik" oder den Fährhafen Mukran. Dazu kommt noch eine Detailstudie zum Einsatz in der Bitterfelder Chemieindustrie.
Danach wird die Rolle der gedienten Reservisten in der zivilen Gesellschaft - vor allem in den Betrieben - sowie der oft komplizierte Übergang ehemaliger Berufssoldaten in eine zivile Tätigkeit untersucht. Anders als von den Wehrideologen der SED erhofft, trugen die Reservisten jenseits der offiziellen Propaganda zumeist ein kritisches Bild der Streitkräfte in die Gesellschaft, während die ehemaligen Berufssoldaten ohne systematische Vorbereitung auf eine zivile Verwendung und nun hautnah konfrontiert mit dem dürftigen Sozialprestige des Soldatenberufes den Übergang ins Zivilleben oft als krisenhaft erlebten.
Bevor Matthias Rogg das Resümee seiner Untersuchung zieht, zeichnet er unter Nutzung demoskopischer Daten die Langzeittrends der Einstellungs- und Motivationsstrukturen von Wehrpflichtigen, Zeit- und Berufssoldaten zwischen den sechziger und den späten achtziger Jahren nach. Die darin gerade in der Spätphase des SED-Regimes zum Ausdruck kommende Unzufriedenheit war dann - so die Vermutung Roggs - auch ein wesentlicher Grund dafür, dass die SED-Führung auf einen Einsatz der Armee gegen die friedliche Revolution weitgehend verzichtete (576).
Die immer wieder aufgegriffene Leitfrage, ob die NVA eine "Armee des Volkes" gewesen sei, wird schließlich mit einem "großen Nein" und einem "kleinen Ja" beantwortet (581). Das bleibt ebenso vage wie der Begriff "Armee des Volkes" selbst, an dessen Definition bereits die Wehrideologen der SED gescheitert waren (66) und der auch von Rogg nicht näher präzisiert wird. Folgerichtig arbeitet er sich an einem diffus bleibenden Propagandatopos ab, der schon als solcher schwerlich soziale Realität werden konnte. Die einen griffigen Buchtitel abgebende Leitfrage erhält so jedoch einen bloß rhetorischen Charakter, was aus heuristischer Sicht einigermaßen unglücklich ist.
Dazu kommen einzelne paradox anmutende Befunde. So konstatiert Rogg nach ausführlicher Schilderung der diversen Spielarten zivil-militärischer Kooperationsbeziehungen im Raum Bitterfeld, dass die NVA im Leben der DDR-Bürger wider Erwarten nicht "sehr präsent" gewesen sei (426-432), oder er führt die wichtige Rolle des Militärs als Katastrophenhelfer ausgerechnet darauf zurück, dass die Zivilverteidigung "aufgrund ihrer paramilitärischen Struktur und Ausbildung dafür ungeeignet war." (496)
In scharfem Kontrast zum sonst akribischen Quellennachweis für einzelne Details fallen die Belege gerade bei der Generalisierung bestimmter Negativphänomene zum Teil erstaunlich dünn aus. Das ist etwa der Fall, wenn den Armeeangehörigen pauschal eine "hohe Gewaltbereitschaft" (443) unterstellt oder dem Alkohol am Einberufungstag "eine dominierende Rolle" (278) zugeschrieben wird. In diesen Überzeichnungen zeigt sich als generelles Problem erneut das Fehlen eines klaren Bewertungsmaßstabes sowie des Vergleichs zu anderen Militärorganisationen oder der zivilen Gesellschaft, die gerade bei der Präsentation von Fallzahlen und Statistiken eine sinnvolle Bewertung oftmals erst möglich machen.
Trotz dieser Defizite hat Matthias Rogg eine insgesamt gelungene Gesamtschau zum Thema Militär und Gesellschaft in der DDR vorgelegt, die schon aufgrund ihrer Materialfülle und Systematik zu einem Standardwerk werden dürfte.
Christian Th. Müller