Uwe Hartmann: Die NATO. Menschen und Mächte in der transatlantischen Allianz , Berlin: Carola Hartmann Miles-Verlag 2021, 252 S., ISBN 978-3-96776-031-6, 19,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Falk Ostermann: Die NATO. Institution, Politiken und Probleme kollektiver Verteidigung und Sicherheit von 1949 bis heute, Stuttgart: UTB 2022, 359 S., eine Kt., 4 Farb-, 4 s/w-Abb., 13 Tbl., ISBN 978-3-8252-5441-4, EUR 26,90
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Stefan Maximilian Brenner: Die NATO im griechisch-türkischen Konflikt 1954 bis 1989, Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2017
Moritz Pöllath: Eine Rolle für die NATO out-of-area? Das Bündnis in der Phase der Dekolonisierung 1949-1961, Bruxelles [u.a.]: Peter Lang 2017
Bernd Lemke (ed.): Periphery or Contact Zone? The NATO Flanks 1961 to 2013, Freiburg/Brsg.: Rombach 2015
William H. Hill: No Place for Russia. European Security Institutions Since 1989, New York: Columbia University Press 2018
Oliver Bange: Sicherheit und Staat. Die Bündnis- und Militärpolitik der DDR im internationalen Kontext 1969 bis 1990, Berlin: Ch. Links Verlag 2017
Christoph Meißner / Jörg Morré (eds.): The Withdrawal of Soviet Troops from East Central Europe. National Perspectives in Comparison, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021
Julian-André Finke: Hüter des Luftraumes? Die Luftstreitkräfte der DDR im Diensthabenden System des Warschauer Paktes, Berlin: Ch. Links Verlag 2010
Rüdiger Wenzke: Wo stehen unsere Truppen? NVA und Bundeswehr in der ČSSR-Krise 1968. Mit ausgewählten Dokumenten zur militärischen Lagebeurteilung, Berlin: Ch. Links Verlag 2018
Die 1949 gegründete North Atlantic Treaty Organization, besser bekannt als NATO, ist das älteste und mit inzwischen 30 Mitgliedsstaaten auch das größte kollektive Verteidigungsbündnis der Weltgeschichte. Ihre wechselhafte Geschichte wird wahlweise als Erfolgsstory oder Abfolge innerer und äußerer Krisen erzählt. Noch vor wenigen Jahren von Donald Trump und Emanuel Macron für "obsolet" beziehungsweise "hirntot" erklärt, ist ihre Bedeutung seit Beginn der offenen russischen Aggression gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 so unstrittig wie lange nicht mehr. Selbst traditionell neutrale Staaten wie Schweden und Finnland streben nun eine Mitgliedschaft an.
Die beiden hier zu besprechenden Bücher sind vor dieser "Zeitenwende" in den Jahren 2020 und 2021 veröffentlicht worden. Manche ihrer Bewertungen und Prognosen muten daher inzwischen von den Ereignissen überholt an und würden heute wohl auch anders ausfallen. Das tut ihrem grundsätzlichen Wert jedoch keinen Abbruch. Hinsichtlich ihrer Adressaten und ihres inhaltlichen Zuschnitts weisen die beiden Bücher beträchtliche Unterschiede auf. Während Falk Ostermann sich mit einer systematisch und didaktisch aufgebauten Überblicksdarstellung zu Struktur und Geschichte der NATO primär an Studenten und Politikwissenschaftler wendet, richtet sich der Band von Uwe Hartmann in erster Linie an Militärs sowie aktive und angehende NATO-Mitarbeiter. Dabei will er einerseits den "NATO Spirit" vermitteln und andererseits zur Reflexion der eigenen Rolle innerhalb der Institution anregen.
Hartmanns Darstellung gliedert sich in sechs Kapitel. Einleitend wirft er zunächst einen Blick auf "Eine Welt aus den Fugen", bevor er im zweiten Kapitel die sich daraus ergebenden außen- und sicherheitspolitischen Herausforderungen für die NATO und ihre Mitgliedsstaaten skizziert. Die Kapitel 3 und 4 sind den Mächten in der NATO und deren innerer Funktionsweise als "Kompromissmaschine" gewidmet. Danach wendet Hartmann sich den in den Spitzenpositionen sowie im "Maschinenraum" des Bündnisses tätigen Menschen zu, woraus er im sechsten Kapitel einen Anforderungskatalog für Mitarbeiter der NATO sowie Folgerungen für die weitere innere Entwicklung der Bundeswehr ableitet. Hinzu kommt schließlich noch ein Anhang mit dem NATO-Vertrag und Übersichten zur Organisationsstruktur des Bündnisses.
Insgesamt bietet Uwe Hartmann in seiner essayhaften und abgesehen von dem aufgeblähten Fußnotenapparat gut lesbaren Darstellung nicht nur interessante Einblicke in die Funktionsweise des Bündnisses, sondern auch zahlreiche Anregungen zur Positionsbestimmung und Selbstreflexion. Dazu gehört etwa die Beobachtung, "dass die Nato sich zunehmend zu einem Militärbündnis entwickelte, das seine politische Dimension einbüßte" (129). Hartmann sieht darin "auch eine wesentliche Ursache für die ausgebliebenen Erfolge der NATO in den Auslandseinsätzen" und wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, "inwieweit ein mehr an Jomini als an Clausewitz orientiertes strategisches Denken zu dieser Entwicklung innerhalb der NATO beigetragen hat" (130). [1] Daraus ergibt sich die Forderung: "Die NATO muss also politischer werden, auch in dem Sinne, dass sie andere Instrumente als das militärische in ihr strategisches Denken einbezieht und an gemeinsamen politischen Zielsetzungen ausrichtet und sie muss strategischer werden, um politische Ziele realistischer zu definieren" (131). Zentraler Maßstab müsse dabei das "gemeinsame Bündnisinteresse" (186) sein, welches Hartmann zwar immer wieder betont, aber inhaltlich nicht näher definiert.
Falk Ostermann hat demgegenüber ein ebenso systematisch wie didaktisch aufgebautes sowie mit Tabellen, Schemata und Karten angereichertes Lehrbuch vorgelegt, dass die Theorie der internationalen Beziehungen konsequent mit der Praxis der NATO in Beziehung setzt. Am Ende jedes Kapitels bieten Diskussionsfragen und Literaturhinweise Anregungen für Seminararbeit und vertiefendes Literaturstudium.
Die in acht Kapitel gegliederte Darstellung beginnt zunächst mit einer knappen Tour d'Horizon, bevor im zweiten Kapitel die Strukturen der NATO detailliert vorgestellt werden. Darauf folgen drei gleichsam historisch angelegte Kapitel. Während das dritte Kapitel die Konzepte und Probleme der kollektiven Verteidigung unter den Rahmenbedingungen von Bipolarität und Kaltem Krieg in den Blick nimmt, ist das vierte den Herausforderungen und Transformationsprozessen für die kollektive Verteidigung von der Auflösung des Sowjetblocks bis zur russischen Annexion der Krim 2014 gewidmet. Das fünfte Kapitel analysiert dann speziell die von der NATO organisierten europäischen und globalen Sicherheitskooperationen sowie die in diesem Zusammenhang "out of area" durchgeführten Militäreinsätze. Nachdem im sechsten Kapitel die kollektive Identität der NATO als Werte- und Sicherheitsgemeinschaft betrachtet wurde, führt das siebte Kapitel mit dem Titel "Trump und andere Probleme: Neue (?) Krisen in der Allianz" den Leser in die zunehmend unsichere NATO-Gegenwart des Jahres 2020.
Resümierend attestiert Ostermann der NATO in seinem Schlusswort, dass diese seit 1949 viele innere und äußere Krisen gemeistert habe. Gleichzeitig sei sie aber auch immer wieder mit zum Teil schmerzlichen Misserfolgen konfrontiert worden, wie er sie angesichts der politischen Ergebnisse der Operation Unified Protector 2011 in Libyen konstatiert und für den 2021 beendeten Afghanistaneinsatz bereits antizipiert. Stand 2020 sieht Ostermann die NATO mit der Gleichzeitigkeit mehrerer, die Pfeiler der Allianz - er nennt hier den "verteidigungspolitischen, strategischen, finanziellen und sozial-relationalen" (289) - betreffenden Krisen konfrontiert, die nur in der Rückbesinnung auf die gemeinsamen kulturellen und emotionalen Grundlagen des Bündnisses in einem ebenso kontroversen wie kooperativen Diskussionsprozess bewältigt werden könnten. Ebenso wie Hartmann sieht auch Ostermann in der primär militärischen Ausrichtung des Bündnisses ein Problem für nachhaltig gelingende Sicherheitspolitik.
Insgesamt bieten die zwei hier besprochenen Bücher auf ihre jeweils eigene Art wertvolle Einblicke in Geschichte, Struktur und Funktionsweise, aber auch die inneren Konflikte und Probleme des westlichen Bündnisses. Zusammen genommen bieten sie daher eine gute Einführung in die Komplexität des NATO-Universums.
Anmerkung:
[1] Antoine-Henri Jomini (1779-1869) und Carl von Clausewitz (1780-1831) hatten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei sehr unterschiedliche Kriegstheorien entwickelt. Clausewitz hatte den Krieg als ebenso komplexes wie variables Zusammenwirken sehr verschiedener Faktoren begriffen, wobei die politischen Verhältnisse und die verfolgten politischen Zwecke die Grundlage aller strategischen Überlegungen bilden sollten. Jomini setzte demgegenüber die Tradition der geometrisch geprägten Kriegstheorie der Spätaufklärung fort, in dem er Krieg primär operativ-geographisch dachte und dabei tendenziell einseitig die entscheidende Bedeutung der relativen Position der Streitkräfte im Raum propagierte.
Christian Th. Müller