Jürgen Mittag: Kleine Geschichte der Europäischen Union. Von der Europaidee bis zur Gegenwart, Münster: Aschendorff 2008, 344 S., ISBN 978-3-402-00234-6, EUR 16,80
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Im letzten Kapitel seines Buches verweist Jürgen Mittag auf die kaum mehr überschaubare Flut an wissenschaftlichen Neuerscheinungen, die aufzeige, wie sehr das Thema europäische Einigung die zeithistorische Forschung beschäftige (319). In der Tat erfreut sich die "Erfolgsgeschichte" der europäischen Integration, deren Erforschung bereits in den 1970er Jahren angestoßen wurde, wachsender Beliebtheit. Daher drängt sich die Frage auf, was denn unter der Überschrift "Kleine Geschichte der Europäischen Union" noch Neues zu Papier gebracht werden kann, zumal der Untertitel "Von der Europaidee bis zur Gegenwart" die Vermutung verstärkt, dass es sich bei dem hier besprochenen Buch um eine Wiedererzählung bekannter Fakten handelt.
Doch Jürgen Mittag überrascht den Leser, denn er hat es geschafft, eine zwar inhaltlich nicht neue, aber lesenswerte und anregende Geschichte der europäischen Einigung vorzulegen. Auf 330 Seiten schildert er anschaulich die Entstehung der Europäischen Union und bietet einen Überblick über die verschiedenen Interpretationsansätze der Forschung sowie die historiografische und politikwissenschaftliche Literatur. Die einzelnen Kapitel werden von einer kurzen Zusammenfassung eingeleitet, beinhalten nützliche Karten und kompakte Tabellen und münden jeweils in eine sorgsam erstellte Auswahlbibliografie als Handreichung für den interessierten Leser. Somit wird das Buch seinem Ziel gerecht, "Studierenden im Grundstudium, Schülern und Lehrern einen Zugang zu den wichtigsten Etappen des europäischen Einigungsprozesses zu eröffnen." (8) Es geht sogar ein wenig darüber hinaus, denn die einzelnen Etappen werden nicht schulbuchartig aufgezählt, sondern problematisiert und sowohl mit ihrer Vorgeschichte als auch mit der weiteren Entwicklung in Beziehung gesetzt.
Mittag definiert die Geschichte der Europäischen Union als unvollendeten Prozess und geht bei der Schilderung ihrer Entstehungsgeschichte sowohl chronologisch als auch thematisch vor. Nach der einleitenden Darstellung der Entwicklung des Europagedankens bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wird der Weg zum Schuman-Plan und zu den Römischen Verträgen beschrieben. Dabei erläutert der Autor auch einige Teilaspekte, die in reinen Überblicksdarstellungen normalerweise keinen Platz finden. So beschränkt sich Mittag zum Beispiel nicht darauf, die allseits bekannte Geschichte des Schuman-Plans zu rekapitulieren. Er stellt vielmehr auch die Vorläufer dieses Plans vor und zitiert die bereits 1948 vom nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold geäußerten Überlegungen zu einem "genossenschaftlichen Zweckverband" (76), die in der Tat nicht ohne Einfluss auf Robert Schuman und Jean Monnet blieben. Bei der weiteren Unterteilung der Kapitel fällt auf, dass Mittag nicht wie oft üblich den Haager Gipfel und den Beginn der Europäischen Politischen Zusammenarbeit 1969 oder die erste Norderweiterung 1973 als Zäsur wählt, sondern das Jahr 1974 mit der Konstituierung des Europäischen Rats, "der die europäische Einigung in den folgenden Jahrzehnten wie keine andere geprägt hat." (160) Zur Veranschaulichung der Funktionsweise dieser Institution lässt Mittag auch Akteure zu Wort kommen, die sonst eher selten erwähnt werden, aber durchaus eine wichtige Rolle spielten. So wird zum Beispiel der ranghohe Kommissionsbeamte Marcell von Donat zitiert, dessen pointierte Beschreibung der Entwicklung der europäischen Gipfeltreffen meist nur einem spezialisierten Fachpublikum bekannt ist.
Was die Phase der sogenannten Eurosklerose betrifft, so betont Mittag, die unterstützende Kraft der europäischen Öffentlichkeit habe gefehlt, um dem Einigungsprozess neue Impulse zu geben. Zugleich weist er allerdings darauf hin, dass in den 1970er und 1980er Jahren, die aufgrund des mangelnden Enthusiasmus der Bürger als "dark ages" verschrien sind, die Vertiefung der Gemeinschaft trotzdem voran getrieben wurde. Als letzte Etappe auf dem Weg zur Europäischen Union definiert Mittag die Zeit vom Ende des Ost-West-Konflikts bis zum Vertrag von Nizza. Abschließend diskutiert er die Probleme der auf 27 Mitglieder erweiterten Gemeinschaft, geht auf juristische Feinheiten der europäischen Rechtsprechung ein und wirft die Frage nach der Zukunft auf.
Diese Frage ist umso wichtiger, als sich die Europäische Union seit dem irischen Nein zum Vertrag von Lissabon in einer Krise befindet, deren Ausgang noch ungewiss ist. Europa fehlt es an Orientierung und an einer Idee, mit der sich die Bürger aller Mitgliedsstaaten identifizieren könnten. Noch immer ist die nationalstaatliche Logik nicht durchbrochen, und es ist fraglich, wie das neue, große Europa zusammengehalten werden kann. Mittag versäumt es nicht, auf die Probleme der Gemeinschaft im 21. Jahrhundert hinzuweisen und anzudeuten, dass die seit 1969 bestehenden Maximen "Vertiefung, Erweiterung, Vollendung" ihre Schuldigkeit getan hätten. Um den Elan der Integration aufrechtzuerhalten, sei eher Differenzierung und Flexibilität das Gebot der Stunde. Doch dieser Gedanke wird nicht näher ausgeführt, sodass die Frage offen bleibt, wie die Union umgestaltet werden könnte. Denn um die Europäer zu mobilisieren und nicht in der momentanen zweiten Eurosklerose zu verharren, muss das "Modell Europa" vielleicht neu gedacht werden.
Dafür ist es in jedem Fall wichtig, die Vorgeschichte zu kennen, und wer sich darüber informieren will, ist bei Jürgen Mittag gut aufgehoben. Seine "Kleine Geschichte der Europäischen Union" ist ein gelungenes Werk über die von Hoffnungen, Krisen und Erfolgen geprägte Entstehung der Europäischen Union.
Veronika Heyde