Richard Holmes: Marlborough. England's Fragile Genius, London: HarperCollins 2008, xxvii + 564 S., ISBN 978-0-00-722571-2, GBP 25,00
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Wer einmal in einer gut sortierten englischen Buchhandlung war, ahnt die Begeisterung der englischen Leserschaft für Militärgeschichte und historische Biografien. Wenn beides zusammenkommt, entsteht oft englische Nationalhagiografie. Der Held des Spanischen Erbfolgekrieges und Bekämpfer der Franzosen; der General, der keine Schlacht verlor und keine Belagerung abbrechen musste; der gut aussehende und populäre Heerführer, den seine Soldaten "Corporal John" oder "Old Corporal" nannten: Diese Charakteristika machten Marlborough zu einer englischen Nationalikone. Gleichzeitig boten seine Geldgier, sein Verrat an seinem Gönner James II, aber auch seine zwielichtigen jakobitischen Kontakte nach 1688 genug Stoff, um ihn als notorisch unzuverlässigen Opportunisten zu porträtieren.
Das Leben John Churchills (1650-1722) ist oft beschrieben worden - am wichtigsten sind immer noch William Coxes quellennahe Darstellung vom Beginn des 19. Jahrhunderts und die monumentale Biografie Winston Churchills aus den 1930er Jahren. [1] Churchills Buch ist in seiner apologetischen Haltung und im Bemühen, den Spanischen Erbfolgekrieg zu einem europäischen Befreiungskampf gegen den finsteren Despoten Ludwig XIV. zu stilisieren, sicher nicht mehr zeitgemäß, beeindruckt aber durch seine Informationsfülle und seinen literarischen Wert. Nach Churchill entstanden und entstehen alle paar Jahre biografische Versuche unterschiedlicher Qualität. Was diese allerdings für die Forschung bedeuten, ob sie überhaupt etwas für sie bedeuten oder dies gar nicht anstreben, bleibt oft unklar. Diese Fragen wird man auch an Richard Holmes' aktuelle Marlborough-Biografie richten müssen.
Der Militärhistoriker Holmes liefert eine verlässliche Fortschreibung der biografischen Tradition. Er grenzt sich von anderen Biografen inhaltlich kaum ab, verfolgt keine starken Thesen, legt keine überraschenden Interpretationen vor, sondern erzählt chronologisch das Leben seines Helden, das er in den politischen und gesellschaftlichen Hintergrund einbettet. John Churchill, aus einer verarmten Adelsfamilie stammend, die im Bürgerkrieg auf der königlichen Seite gestanden hatte, wurde während der Restauration Page des Königsbruders James, trat später in die Armee ein und lernte sein militärisches Handwerk in den 1670er Jahren unter Turenne. Durch seine Ehefrau Sarah, die zur Vertrauten der Prinzessin Anne aufstieg, geriet Churchill in den Umkreis der späteren Königin. Als Offizier und Höfling von James gefördert, wandte sich Churchill nach dessen Thronbesteigung im Jahr 1685 - wie viele andere Adlige - vom König ab, weil er dessen Religionspolitik und Herrschaftsstil ablehnte, und beteiligte sich an der Konspiration, die zur Glorious Revolution führen sollte. Von William III. zum Earl of Marlborough erhoben, entfremdete er sich auch dem neuen König bald: Unzufrieden mit der Bevorzugung der niederländischen Entourage, intensivierte er seine zeitlebens gepflegten Kontakte zum jakobitischen Exilhof, ohne jemals so weit zu gehen, dass ihm Verrat hätte nachgewiesen werden können. Im Spanischen Erbfolgekrieg avancierte Marlborough zum militärischen Oberbefehlshaber der antifranzösischen Allianztruppen, zum bedeutendsten Feldherrn des Krieges und zum englischen Chefdiplomaten. Doch im Laufe des Krieges wendete sich aus verschiedenen Gründen die Stimmung gegen Marlborough, der 1711 schließlich entlassen wurde. Er ging ins Exil und kehrte erst nach England zurück, als die hannoversche Thronfolge gesichert war. 1714 wurde er wieder in das Amt des Oberkommandierenden eingesetzt, starb aber einige Jahre später.
Holmes schreibt innerhalb der bekannten Parameter und legt, wie alle Marlborough-Biografen, großes Gewicht auf Schlachtbeschreibungen, setzt aber hier und da eigene Akzente: So ergänzt er die Feldherrenperspektive durch Augenzeugenberichte englischer Offiziere und Soldaten. Er belegt relativ ausführlich, dass die Marlborough im Feldlager periodisch heimsuchenden starken Kopfschmerzen wohl eine Migräne im klinischen Sinn gewesen sind. Schließlich weist er mit psychologischem Gespür darauf hin, dass die nie ganz abgebrochenen Kontakte zum jakobitischen Exil einerseits mit politisch gezielter Irreführung zu tun haben dürften (ein Argument Churchills), andererseits aber wohl mit Marlboroughs Angst, er könne eines Tages wieder auf der falschen Seite stehen - so wie seine Familie im Bürgerkrieg auf der falschen Seite gestanden hatte.
Beurteilt man Holmes' Buch nach geschichtswissenschaftlichen Kriterien, muss man fragen: Was ist originell und neu daran, welche neuen Fakten, welche neuen Interpretationen werden geliefert? Offenbar misst man aber mit dem falschen Maß, wenn man Bücher wie dieses einer Logik der Forschung unterwirft. Dass man überhaupt auf den Gedanken kommen kann, hier handle es sich um (neue Erkenntnisse anstrebende) Forschung, liegt daran, dass das Buch unter anderem in seinem extensiven Rückgriff auf archivalische Quellen vorzugeben scheint, Forschung zu sein. Damit unterscheidet es sich von populären Biografien, die auf der Auswertung von Sekundärliteratur beruhen. Doch Holmes' Buch kann man wohl nur im Hinblick auf die englische Geschichtskultur und den englischen Buchmarkt bewerten. In dieser Hinsicht stellt es den durchaus gelungenen Versuch dar, zum Teil auf der Höhe der Forschung die Biografie eines Nationalhelden zu schreiben, ohne Ambivalenzen zu verschleiern. Doch selbst auf diesem Feld kann man sich wundern, dass der Markt offenbar nicht gesättigt ist: Wer eine opulente Biografie sucht, wird ungeachtet seiner problematischen Züge zu Winston Churchills Buch greifen. Wer eine solide Biografie auf dem aktuellen Forschungsstand lesen möchte, wird Jones' Werk von 1993 oder den ausführlichen Artikel im Oxford Dictionary of National Biography benutzen. [2] Holmes' Buch erscheint als mögliche Alternative für den Leser, dem Churchills Buch zu lang, Jones' Biografie zu knapp ist.
Man kann Holmes nicht vorwerfen, dass er eine traditionelle biografische Form gewählt hat. Dennoch springt gerade bei einer Gestalt wie Marlborough ins Auge, was eine problem- statt personenorientierte Geschichtswissenschaft erforschen könnte. Holmes bemerkt zu Recht: "To consider Marlborough purely as a general is as misleading as it would be to see, say, Paul McCartney as only a classical composer, Alexander Borodin as just a chemist, or Winston S. Churchill as a simple historian" (6). Das in Holmes' Aussage implizierte (und von ihm selbst weitgehend missachtete) Postulat, Marlborough in allen seinen Rollen - als General, als Politiker, als Höfling, als Diplomat - darzustellen, ist nicht einmal im Ansatz eingelöst; schon eine systematische Untersuchung der diplomatischen Tätigkeiten Marlboroughs zwischen 1701 und 1711 steht aus. Die militärische Seite von Marlboroughs Aktivitäten ist zwar oft behandelt worden, aber Fragen der Organisation, Logistik, selbst der Strategie (etwa die Frage nach Marlboroughs persönlichen Kriegszielen) wurden vernachlässigt. Auch außerhalb der Militärgeschichte böten sich reizvolle Themen an: Die in der Forschung zuweilen angerissene Perspektive auf Marlborough als Favorit könnte einen analytischen Ansatzpunkt bieten; die Patronage, die Marlborough selbst erfuhr, aber auch seine Tätigkeit als Patron wären eine Untersuchung wert. Schließlich ist da noch das Jakobitenproblem; auch wenn gerade dieses Thema von Legenden überwuchert ist, schiene doch eine synthetische Auswertung aller verfügbaren Quellen wünschenswert. Es gibt also eine ganze Reihe interessanter Themen, die zu untersuchen wären; diese Themen und Fragen liegen aber außerhalb des Fokus von Holmes' Buch.
Anmerkungen:
[1] William Coxe: Memoirs of John Duke of Marlborough. With his original correspondence, 3 Bde., London 1818f.; Winston S. Churchill: Marlborough. His Life and Times, 2 Bde., Chicago 2002.
[2] Vgl. J.R. Jones: Marlborough, Cambridge 1993; John B. Hattendorf: Art. "Churchill, John", in: ODNB 11, Oxford 2004, 607-633.
Matthias Pohlig