Gabriela Christen: Ferdinand Hodler - Unendlichkeit und Tod. Monumentale Frauenfiguren in den Zürcher Wandbildern, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2008, 253 S., ISBN 978-3-496-01377-8, EUR 49,00
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Seit einigen Jahren ist Ferdinand Hodler, der lange Zeit unterschätzte Doyen der Schweizer Malerei des frühen 20. Jahrhunderts, wieder in den Blickpunkt der Forschung gerückt. [1] Mittlerweile sind eine ganze Reihe von Publikationen erschienen, darunter die Berner Dissertation von Gabriele Christen zu Hodlers letzten beiden monumentalen Zürcher Wandbildaufträgen Blick in die Unendlichkeit für das Kunsthaus und Floraison für die Universität der Stadt. Von "Blick in die Unendlichkeit" fertigte Hodler neben der Fassung für das Treppenhaus des Kunsthauses zwischen 1913 und 1917 vier weitere Versionen, während das Wandbild für die Stirnwand der Universitätsaula nicht mehr zur Ausführung gelangte. Als Hodler 1918 starb, hinterließ er eine Handvoll Skizzen und Entwürfe, die, noch ganz im Anfangsstadium, fortan Raum für Spekulationen über Form und Inhalt der geplanten Malerei boten und "Floraison" seither mit der Aura des rätselhaften unvollendeten Meisterwerks umgaben.
Dieser Topos ist nicht das einzige Missverständnis der Hodler-Forschung, das Gabriele Christen mit ihrer Arbeit korrigieren möchte. Die Autorin verfolgt mehrere Ziele: Im ersten Teil ihres Buches geht sie der komplizierten Auftragsvergabe, der Chronologie und Genese beider Werke nach, versucht diese mit Blick auf den umfangreichen Skizzen- und Zeichnungsbestand zu klären, der auch allgemein Aufschluss geben soll über Hodlers zeichnerische Verfahren. Ein kurzer Abschnitt beschäftigt sich mit Hodlers Stellung in der europäischen Wandmalerei.
Im zweiten Teil arbeitet die Autorin einen beeindruckenden, aber mitunter beliebig wirkenden Fragenkatalog ab, der von den Wechselwirkungen mit dem zeitgenössischen Tanz und der Fotografie über das tableau vivant bis zur Rolle des Modells in Hodlers Schaffensprozess unter Gender-Perspektive reicht. Die angestrebte Kontextualisierung der Werke dient dazu, den Deutungshorizont der Zürcher Wandbilder zu erweitern. Dieser allerdings verschwimmt angesichts der Fülle methodischer Ansätze und Fragen, bei denen die Wandbilder selbst über weite Strecken aus dem Blickfeld geraten. Eine strengere Systematik hätte vielleicht auch die zahlreichen Wiederholungen und Redundanzen verhindert - so manches Thema tanzt wild durch das Buch.
Es ist ein Verdienst der Arbeit, den schwierigen und langwierigen Prozess der Verhandlungen zwischen Künstler, Architekt und anderen Verantwortlichen, einschließlich der oft widerstreitenden konzeptionellen Vorstellungen, minutiös rekonstruiert zu haben. Der Architekt Karl Moser, der in beiden Fällen für Bau und Innenausstattung verantwortlich zeichnete, schätzte Hodler als großen Erneuerer dekorativer Monumentalmalerei - ein Ruf, den sich der Genfer Maler seit der Jahrhundertwende vor allem mit seinen historischen Wandbildern in Deutschland und der Schweiz erworben hatte. Von der ihm vorschwebenden Idee eines Gesamtkunstwerks freilich musste sich der Architekt im Falle des Kunsthauses nach und nach verabschieden. Weil die geplante Freskierung des kompletten Treppenhauses zu teuer geworden wäre, bat man Hodler um ein groß dimensioniertes Leinwandbild, das nach weiteren Kompromissen seinen Platz schließlich an der Südwand fand.
Hodlers Bildidee schien von Anbeginn an festgestanden zu haben, ein Reigen von Frauen in stilisierten, leicht variierten Bewegungsrhythmen, den er bald auf fünf Figuren reduzierte und beiläufig Blick ins Unendliche nannte. Christens Annahme, die Themenwahl habe in den Gesprächen zwischen Künstler und Architekt keine Rolle gespielt, darf bezweifelt werden. Gestaltungsentwürfe des Treppenhauses aus der Hand Karl Mosers, die von der Autorin allein für die Erörterung der Raumdisposition genutzt werden, geben Dekorationsmalereien wieder, die ikonografisch und formal an Projekten eines Puvis de Chavannes oder Hans von Marées orientiert sind. Derartige Parallelen werden von der Autorin zwar bemerkt, in späteren Kapiteln, die dem Prozess der Bildfindung und -deutung gelten, aber nicht fruchtbar gemacht.
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit dem zeichnerischen Entwurfsmaterial zu Blick in die Unendlichkeit und Floraison. Schon aufgrund überzeugender Einzelanalysen, die neues Licht auf die Funktion der Zeichnung werfen, ist es bedauerlich, dass die einzelnen Stadien der Bildentwicklung von der ersten Ideenskizze bis zur Ölskizze nur schwer nachvollziehbar sind. Das liegt zum einen am Fehlen eines verbindlichen Begriffsapparats - es bleibt offen, worin sich die spontane Skizze vom Ideenstenogramm unterscheidet -, zum anderen aber auch an der ausschließlichen Fixierung auf das Medium der Zeichnung als solches, bei der die Autorin ihr eigentliches Anliegen, die Werkgenese der Zürcher Wandbilder, aus den Augen verliert. Erschwerend kommt hinzu, dass wesentliche, die Genese betreffende Aspekte in den zweiten Teil des Buches verlagert sind, dorthin, wo die völlig zu Recht hervorgehobene Beziehung zwischen Maler und Modell näher untersucht wird. Hodlers wohl von tanzästhetischen Prinzipien angeregte Praxis, laufende Bewegungen seiner Modelle in schnellen Momentfixierungen auf dem Papier einzufrieren, wird vor dem Hintergrund seiner Suche nach elementaren, allgemeingültigen Formeln und der Entwicklung eines signifikanten Gestenrepertoires verständlich. [2] Es ist dieses Streben nach Abstraktion, das Christens biografisch argumentierende These, in den einzelnen Frauengestalten des Gemäldes spiegelten sich die Charaktere bzw. sozialen Profile von Hodlers weiblichen Modellen, unwahrscheinlich macht.
Bei allen Einschränkungen liegt die Stärke des Buches in der erarbeiteten Nähe zum Material, die Einbindung des Malers in den Kontext der zeitgenössischen europäischen Monumentalmalerei etwa Puvis de Chavannes', Maccaris, Gustav Klimts hingegen unterbleibt beinahe völlig. Das erstaunt umso mehr, als seit den 1980er-Jahren die Zahl der Publikationen zum Thema stetig zugenommen hat. [3] Die Tendenz, die Literaturlage zu angrenzenden Problemen nicht zur Kenntnis zu nehmen, macht sich auch bei der Deutung von Hodlers Bildern schmerzhaft bemerkbar. Ebenso fehlt eine grundsätzliche Stellungnahme zur Allegoriediskussion um 1900. Christens Vorschlag, Hodlers Blick ins Unendliche als Kreislauf des Lebens zu deuten, liegt angesichts der zahlreichen Lebensalterdarstellungen der Kunst um 1900 im Bereich des Möglichen, ist aber über das Bild kaum zu verifizieren. Hodler nutzt, wie schon Marées und Böcklin vor ihm, die Ambiguität der Allegorie zwischen Verweis und Verrätselung und entzieht dem Bild die Eindeutigkeit. Dem Betrachter ist ein semantisches Bezugsfeld suggeriert, dessen er sich nie vollkommen sicher sein kann.
Anmerkungen:
[1] Catalogue raisonnée der Gemälde (Projekt am Schweizerischen Institut für Kunstwissenschaft SIK seit 1998, jüngst erschienen Bd. 1: Die Landschaften, Basel 2008). Mit Referenzcharakter der Katalog zur Berner Retrospektive 2008 (Ferdinand Hodler. Eine symbolistische Vision, hg. von Katharina Schmidt, Ostfildern-Ruit).
[2] Vgl. Verena Senti-Schmidlin: Rhythmus und Tanz in der Malerei. Zur Bewegungsästhetik im Werk von Ferdinand Hodler und Ludwig von Hofmann, Hildesheim 2007.
[3] Dazu etwa die Arbeiten von Stefan Germer, Monika Wagner oder Susanne von Falkenhausen.
Birgitta Coers