France Nerlich: La peinture française en Allemagne. 1815-1870 (= Passagen / Passages. Deutsches Forum für Kunstgeschichte / Centre allemand d'histoire de l'art; Vol. 27), Paris: Éditions de la Maison des sciences de l'homme 2010, XII + 549 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-2-7351-1252-4, EUR 48,00
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Das Deutsche Forum für Kunstgeschichte in Paris hat es sich in einer Reihe von Forschungsprojekten zur Aufgabe gemacht, die traditionell heterogenen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich aus dem Blickwinkel der Kunstakteure aufzuarbeiten - gemeinsam mit französischen Partnerinstitutionen initiierte Einzeluntersuchungen und Sammelbände spiegeln das gegenseitige Interesse an einem für das Verständnis kultureller Transferprozesse ergiebigen Thema. Das Konzept des "Kulturtransfers" definiert sich vor allem durch die Breite und Pluralität der Diskursfelder, so wie es Friederike Kitschen in dem zuletzt erschienenen Passagen-Band "Dialog und Differenzen" zusammengefasst hat. Nicht kollektive Lehrmeinungen und Urteile seien es, die das Bild von der Kunst des jeweiligen Nachbarlandes bestimmten, sondern "weltanschaulicher, diskursiver und medialer Facettenreichtum" im gegenseitigen Beziehungsgeflecht zwischen Malern, Bildhauern, Architekten, Kunstkritikern, Sammlern, Grafikern, Verlegern und Kunsthistorikern. [1]
Bestätigung erfahren diese Prämissen in der materialreichen Dissertation von France Nerlich, deren Arbeit zur Rezeption französischer Malerei in Deutschland zwischen 1815 und 1870 am DFK und der Pariser Sorbonne entstanden ist. Nerlich widerlegt darin eindrucksvoll die wiederholt geäußerte These, in Deutschland sei die Kunst des Nachbarlandes bis in die 1870er-Jahre kaum wahrgenommen worden. Verwiesen wurde stets auf das verhaltene deutsche Sammlerinteresse vor allem öffentlicher Museen - ein Befund freilich, der sich mit Nerlichs erweitertem Blick auf private Sammler, die Ausstellungstätigkeit von Galerien, Kunstvereinen und Kunstakademien und die vehement geführten kunsttheoretischen Debatten um die ästhetischen "Leitbilder" einer deutsch-nationalen Kunst schnell relativiert. Stereotype Urteile über die Kunst des Nachbarlandes lösen sich auf im Ergebnis eines fundierten text- und diskursanalytischen Quellenstudiums, das wirtschaftliche, soziologische und gesellschaftspolitische Fragen mit einbezieht. Die Autorin wertet eine beachtliche Menge unpublizierten Archivmaterials aus, kann aber auch auf Vorarbeiten zu einzelnen Kunstakteuren zurückgreifen.
Die zeitlichen Koordinaten des Projekts zwischen 1815 und 1870 markieren eine Periode tiefer sozialer, zugleich identitätsverändernder Umbrüche. Schon vor dem Wiener Kongress hatte man in Deutschland begonnen, über die künftigen Aufgaben einer deutsch-nationalen Kunst nachzudenken - dies mit kritisch-distanziertem, aber auch bewunderndem Blick auf die Kunsttendenzen im Nachbarland. Rund ein halbes Jahrhundert später werden künstlerische Austauschprogramme zwischen Paris und Berlin auf institutioneller Ebene eingestellt, verlieren sich geschäftliche Kooperationen und persönliche Beziehungen im allgemeinen Kriegsgetöse.
Innerhalb dieses Zeitraums ziehen sich mehrere thematische und topografische, jeweils mit den politischen Ereignissen verflochtene Handlungsstränge durch das Buch - eine komplizierte Kapitelsystematik, die es auch dem an die Brechungen moderner Erzähltechnik gewöhnten Leser wegen der Vielzahl angeführter biografischer und historischer Details und mancher Redundanzen, nicht immer leicht macht. Gleichwohl lohnt es sich, der facettenreichen Narration über die Jahrzehnte zu folgen. Vier Hauptabschnitte fächern den Text in diachrone Phasen auf, die einzelnen Leitthemen untergeordnet sind, mit denen Nerlich den Weg der französischen Kunst an die deutsche Öffentlichkeit nachvollzieht und zugleich grundlegende Veränderungen in der Organisation des Kunstprozesses im 19. Jahrhundert sichtbar macht - dies an den Schauplätzen Berlin, München und Leipzig.
"Le temps des élites" geht dem Verhältnis zur französischen Kunst in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts nach: der offiziellen Kunstpolitik der Höfe in München und Berlin und dem Engagement meist aristokratischer Sammler, wie Franz Erwein Schönborn-Wiesentheid oder Eugène de Beauharnais, die den Pariser Kunstmarkt sondieren, Ateliers besuchen, Aufträge an Jean-Baptiste Regnault oder François Gérard vergeben. Beauharnais stellte seine Sammlung seit den 1820er-Jahren in Opposition zur national geprägten Kunstpolitik Ludwigs I. öffentlich in München aus. Im rivalisierenden Berlin hingegen triumphieren die Franzosen an der Königlichen Akademie: Robert und Granet als Genremaler, Hersent als Porträtist. Davids Werk, mit dem Blücher 1815 eine Akademieausstellung aus der Pariser Kriegsbeute bestückt hatte, spaltete zwar die zeitgenössische Kunstkritik, sein Erfolg aber, der, wie die Autorin in ausgewählten Analysen vorführt, in zahlreichen, bislang zum Teil unbekannten Kopien und Paraphrasen Davidscher Stoffe zum Ausdruck kommt, begleitete Berlins Aufstieg zur Kunstmetropole.
Die folgenden Jahrzehnte, die Nerlich im zweiten und dritten Teil vielgliedrig nachzeichnet, stehen im Zeichen eines neuen bürgerlichen Kunstpublikums, zunehmender Kommerzialisierung und kontroverser Debatten um die Vorbildlichkeit französischer Malerei in Stil- und Gattungsfragen. Nach 1830 forciert der umtriebige Berliner Kunsthändler Louis Friedrich Sachse die Vermarktung französischer Kunst diesseits des Rheins, daneben wird das weltoffene, bürgerliche Leipzig zur Drehscheibe des internationalen Kunsthandels. Im Gegenzuge registrieren nationalgesinnte reaktionäre Kräfte mit Sorge die "Invasion der Barbaren" anlässlich einer frankophilen Akademie-Ausstellung 1838. Die Kunst des Nachbarlandes provozierte und polarisierte bis hinein in die Auseinandersetzung um eine angemessene Historienmalerei zwischen Peter Cornelius, Paul Delaroche und Ary Scheffer. Nerlichs Analysen jedoch gehen über den Gattungsdiskurs hinaus, indem sie das differenzierte Spektrum mal ökonomisch, bald ästhetisch oder ideologisch motivierter Reaktionsmuster freilegen.
Der vierte und letzte Teil fokussiert noch einmal auf das öffentliche und private Sammlungsgeschehen. Neben bereits Bekanntem erschließt die Autorin auch hier neues Quellenmaterial zur Rolle städtischer Kunstvereine, zur Ankaufs- und Ausstellungspolitik von Akademien und Museen, zur Entstehung einer ganzen Reihe bedeutender Privatsammlungen und der Kunstkritik. In Einzelanalysen werden Sammlungsprofile von ganz unterschiedlicher Größe und Prominenz erarbeitet, wie die von Wagener und Raczyński in Berlin oder Schletter in Leipzig, die den genauen Platz der französischen Kunst im Interesse der deutschen Rezipienten zu markieren vermögen. Ein zusätzliches Augenmerk gilt spezifischen Transferphänomenen, etwa der Reproduktionspraxis im grafischen Medium nach Gemäldevorlagen, der Popularisierung französischer Malerei in unterschiedlichsten Publikationsformaten und ihren in Leipzig ansässigen Initiatoren, dem Verleger Heinrich Brockhaus oder dem Kaufmann, Grafiksammler und Kunstmäzen Carl Lampe.
Ungeachtet der bisweilen labyrinthischen Struktur des Buches, bleibt es das große Verdienst der Arbeit, eine Fülle von Einzelaspekten und -studien zur individuellen wie kollektiven Wahrnehmung von Kunst zu einem umfassenden Panorama vereinigt zu haben. In der Gesamtschau des Materials hat die Vorstellung von der Formierung einer nationalstaatlich geprägten Kunst wesentliche Facetten dazugewonnen.
Anmerkung:
[1] Friederike Kitschen: Französische Kunst und deutsche "Eigenheiten". Zur Einleitung, in: Isabell Jansen / dies. (Hgg.): Dialog und Differenzen 1789-1870. Deutsch-französische Kulturbeziehungen, München / Berlin 2010, 1-5. Vgl. hierzu die Rezension von Kristiane Pietsch, in: sehepunkte 11 (2011), Nr. 10 [15.10.2011], URL: http://www.sehepunkte.de/2011/10/17900.html.
Birgitta Coers