Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Aus dem Englischen von Karl Nicolai, Darmstadt: Primus Verlag 2008, 364 S., 7 Abb., ISBN 978-3-89678-643-2, EUR 29,90
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Was war die DDR? Auch (fast) zwanzig Jahre nach dem Ableben dieses Staates sind wir mit dieser Frage noch nicht fertig, sondern diskutieren auf den unterschiedlichsten Ebenen hoch kontrovers. Ausgangspunkt des Buches ist diese Situation, die die britische Deutschlandhistorikerin Mary Fulbrook mit Blick auf die Vereinigung des geteilten Deutschlands als Paradoxon beschreibt: Als sich im November 1989 die Mauer öffnete, taten sich dem Blick des Westens nicht nur verfallene Städte und gravierende Umweltzerstörungen auf, sondern auch ein vorher allenfalls geahntes Maß an politischer Repression. Dennoch meldete sich aus den Reihen der ehemaligen DDR-Bürger rasch Protest, als diese Strukturen aufgedeckt und medial breit bekannt gemacht wurden. Mit dem Verweis auf Unterdrückung und Eisernen Vorhang sei nicht abzubilden, was man bis zu 40 Jahre lang erlebt habe, so der Tenor einer Gegenbewegung, die als 'Ostalgie' wohl nur unzureichend charakterisiert ist. Trotz Verweigerung wichtiger Grundrechte, so Mary Fulbrooks Schlussfolgerung, "erschien die DDR während langer Zeitabschnitte - in manchen mehr als in anderen - vielen ihrer Bürger als ganz 'normal' und selbstverständlich."
Der Titel der deutschsprachigen Version bündelt diese Intention noch einmal: "Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR" - drei Jahre nach der Publikation des englischen Originals legt der Primus-Verlag eine deutsche Übersetzung des Buches von Mary Fulbrook vor. Während der englische Titel "The People's State. East Germany from Hitler to Honecker" auf elegante Weise mit der Doppeldeutigkeit des realsozialistischen Vokabulars spielt, bringt der deutsche Titel noch stärker die Hauptintention des Buches auf den Punkt. Mary Fulbrook geht es darum, "besser zu verstehen, wie es nach Meinung vieler Ostdeutscher möglich war, in der DDR ein ganz 'normales' Leben zu führen, und zu erforschen, wie sich zusammen mit umfassenderen Veränderungen in der sozialen Struktur und Erfahrung hintergründige Auffassungen von 'Normalität' entwickelten." (10) Damit stehen weder der kleine Teil der Bevölkerung im Zentrum, der in Opposition zum Regime stand, noch diejenigen, die zum eng begrenzten Kreis der laut Autorin auf 500 bis 600 Personen begrenzten Spitzen in Partei, Sicherheitsapparat und Verwaltung zählten. Stattdessen setzt Fulbrook mit ihrem Buch dazu an, das Leben derjenigen DDR-Bürger und -Bürgerinnen zu erklären, die niemals an die vom Machtapparat gesetzten inneren und äußeren Grenzen stießen und deshalb davon ausgingen, die besagten "ganz normalen Leben" zu führen.
In einem ersten Kapitel skizziert Fulbrook dazu nicht nur Konsumpraktiken, das häusliche Heim und die private Alltags- und Freizeit, sondern sie thematisiert dabei ebenso Geburt und Tod, Jugend und Jugendkulturen wie auch die in der DDR kultivierten Geschlechterrollen. Im Sinne ihrer These kann sie zeigen, dass insbesondere in der poststalinistischen Zeit der rote Pietismus der 1950er Jahre abgelöst wurde von der Formel "Leben im Sozialismus." Das Regime setzte immer weniger darauf, das Leben seiner Bürger allumfassend zu regulieren, sondern akzeptierte zunehmend individuelle lebensweltliche Abweichungen, solange sie bestimmte Grenzen nicht überschritten.
Im zweiten Großkapitel widmet sie sich dem gesellschaftlichen Großexperiment, das die SED mit ihrer Übernahme der Macht in Gang setzte. An der Spitze der Machtpyramide macht Mary Fulbrook eine überschaubare Zahl von Spitzenfunktionären aus, zu der sie neben den (vornehmlich) Männern des Zentralkomitees die oberste Generalität von Nationaler Volksarmee und Ministerium für Staatssicherheit zählt. Wie stark auch andere Schichten vom Staat geformt und verändert wurden, verfolgt sie in ihrer Skizze des Weges vom Bürgertum zur "sozialistischen Intelligenz" sowie mit Blick auf die "Auflösung der deutschen Arbeiterklasse (und des Bauernstandes)." Beeindruckend kann sie zeigen, wie stark der Umgestaltungswille sich Bahn brach in Ansätzen zu einer sozial immer weiter egalisierten Gesellschaft und gleichzeitig Platz schuf für neue soziale Distinktionen, die sich ebenso an der Nähe zum politischen Machtapparat wie aber auch an Kontakten in den Westen und den damit verbundenen Möglichkeiten, Westdevisen zu bekommen, ausrichteten.
Der zentrale Kern des Buches ist zweifelsohne das Interpretament von der "partizipatorischen Diktatur", welches Fulbrook in Kapitel 3 ihres Buches entwickelt: Die SED-Diktatur, so eine ihrer zentraler Thesen, wurde "durch das Agieren und Interagieren der großen Mehrheit der Bevölkerung aufrecht erhalten." (309) Geschätzte 400.000 hauptamtliche Funktionäre, ein bis zwei Millionen ehrenamtliche Aktive in sozialen und politischen Organisationen wie die fast 170.000 Inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit bildeten das Rückgrat eines "Bienenkorb"-Staates, der von der Partizipation seiner Bürger getragen wurde: Politische Überzeugung, der Wille, sich für die Gemeinschaft einzusetzen, oder auch das Schielen darauf, dass den Kindern der Zugang zur höheren Bildung nicht verwehrt wurde - die Motive für eine solche Beteiligung waren vielfältig. Neben Zonen des Dissenses konstatiert Fulbrook auch breite Politik-und Gesellschaftsbereiche, in denen die Regulierungen und Gestaltungsversuche auf breiten Konsens stießen. Neben der in Literatur und Kunst partiell zugelassenen Kritik, die vor allem als streng kontrollierte Ersatzöffentlichkeit in ihrer Ventilfunktion zu werten ist, richtet sie ihren Blick auf das Eingabewesen der DDR. Hier wurde von Staats wegen dazu ermuntert, Missstände zu benennen und gemeinsam mit den zuständigen Verwaltungsinstanzen zu beheben. Insbesondere seit Mitte der 1970er Jahre, so zeigt Fulbrook, zogen dabei alle Beteiligten an einem Strang, zumindest so lange die inneren und äußeren Grenzen des Systems nicht tangiert wurden. "Die Erfahrung einer gewissen Freiheit, konstruktive Beteiligung am sozialistischen Projekt und Unterstützung durch dieses" waren "nachweislich genau zur gleichen Zeit möglich [...] wie das Erkennen äußerer politischer Zwänge."
Was Mary Fulbrook mit ihren Ausführungen leistet, ist enorm: Sie macht das Bild von der DDR wieder komplexer als es die allzu simple Konfrontation von totalitarismustheoretisch inspirierten Entwürfen einerseits und 'ostalgischen' Weichzeichnungen andererseits ins öffentliche Bewusstsein gehoben hat. So überzeugend die damit verbundene Erklärung der Stabilität des politischen und gesellschaftlichen Systems der DDR ist, so wirft die Idee der "partizipatorischen Diktatur" bei weiterer Reflexion auch Fragen auf: Was hat der notorische Stasi-Informant tatsächlich gemein mit der jungen Familie, die sich mittels Eingaben um die Zuweisung einer Wohnung bemühte? Zweifelsohne werden hier eine ganze Reihe von Verhaltensweisen unter dem Stichwort der "Partizipation" subsumiert, die kaum auf einen Nenner zu bringen sind. Vor diesem Hintergrund wird auch die zentrale Argumentationskette schwächer: Gewiss hat sich die große Mehrheit der DDR-Bevölkerung den Spielregeln des Regimes angepasst, diese in Teilen nicht nur akzeptiert, sondern auch begrüßt. Dass dieses Verhalten zur Stabilität der Diktatur beitrug, steht außer Frage. Ob sie deswegen aber ihr Leben auch als ein "normales" empfanden? Der wachsende Unmut seit Mitte der 1980er Jahre ist wohl nicht nur mit dem Verblassen der sozialistischen Utopie und einem aufkommenden Materialismus zu erklären, sondern muss auch die im engeren Sinne politische Unzufriedenheit mit ins Kalkül ziehen.
Das große Verdienst des Buches ist mindestens ein Doppeltes: Es bietet ein profundes sozialgeschichtliches Panorama der DDR und trägt damit dem häufig geäußerten Wunsch nach Synthesen Rechnung, die Schneisen in die überwucherte Forschungslandschaft schlagen. Darüber hinaus aber erschöpft es sich nicht in einer bloßen Darstellung, Mary Fulbrook richtet ihr Buch konsequent und überzeugend auf die These von der partizipatorischen Diktatur aus. Damit wird es thesenstark und diskussionsanregend. Es sei eine falsche Annahme, dass Staaten entweder auf Zwang oder auf Zustimmung beruhen und dass diejenigen, die auf Zustimmungspotenziale hinweisen, den Zwang bestreiten (310). Mit Aussagen wie diesen räumt sie Barrieren einer bislang viel zu politisierten Diskussion beiseite und gibt wichtige Anstöße dazu, sowohl geschichtswissenschaftlich wie auch mit Blick auf die historisch-politische Bildung unser Bild von der DDR zu diskutieren. Dass dabei Mary Fulbrooks Darstellung unwidersprochen bliebe, ist wohl nicht zu erwarten.
Thomas Großbölting