Mary Fulbrook / Andrew I. Port (eds.): Becoming East German. Socialist Structures and Sensibilities after Hitler (= Spektrum: Publications of the German Studies Association; Vol. 6), New York / Oxford: Berghahn Books 2013, X + 303 S., ISBN 978-0-85745-974-9, USD 95,00
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Andrew I. Port: Conflict and Stability in the German Democratic Republic, Cambridge: Cambridge University Press 2007
Mary Fulbrook: Ein ganz normales Leben. Alltag und Gesellschaft in der DDR. Aus dem Englischen von Karl Nicolai, Darmstadt: Primus Verlag 2008
Welche Prägungen und Vorerfahrungen bestimmten das Werden der Ostdeutschen nach 1945? Diesen Fragen widmet sich der zu besprechende Sammelband, mit Mary Fulbrook und Andrew I. Port herausgegeben von zwei Forschern, deren jüngere Werke die DDR-Forschung erheblich inspiriert haben. Beide haben sich zum Ziel gesetzt, die angelsächsische DDR-Forschung stärker untereinander ins Gespräch zu bringen, und versammeln nun zwölf an britischen und US-amerikanischen Universitäten entstandene Beiträge. Die einleitende Rückschau Ports über die vergangenen knapp 25 Jahre DDR-Historiographie konstatiert treffend eine häufig verkrustet-moralische Debatte, die von totalitarismustheoretischen Zugriffen auf der einen sowie "Weichzeichnungen" auf der anderen Seite geprägt gewesen sei. Von diesen Deutungskämpfen ausgehend, verfolgt der Band das Ziel, solche dichotomischen Zuschreibungen zu überwinden. Inwieweit gelang der Anspruch totalitärer Kontrolle, in welchem Maße wurden anvisierte Werte und Normen auch tatsächlich verinnerlicht? Attraktiv ist, dass mehrere Aufsätze die oft vernachlässigten deutsch-deutschen Wechselwirkungen, gemeinsamen Wurzeln und Traditionen sowie Variationen in der Bundesrepublik in den Blick nehmen, was generelle Entwicklungen auf beiden Seiten des "Eisernen Vorhangs" hervortreten lässt und gängige Periodisierungen zu hinterfragen vermag.
Die Beiträge sind in drei Rubriken unterteilt. Die erste zu Fragen von Erinnerung und Identität wird von Mary Fulbrooks Ausführungen zu offiziösen Erinnerungspraktiken eröffnet, die mit abweichenden, ja widersprüchlichen Erfahrungsgemeinschaften kontrastiert werden. Widerstandskämpfer und Antifaschisten - das sei eben nicht die Mehrheit der DDR-Bürger gewesen. Auch die drei folgenden Artikel stellen das häufig monolithisch gedachte Konstrukt "Antifaschismus" auf den Prüfstand, indem sie die komplexen Wechselbeziehungen zwischen offiziell-dominanten und geläufigen, aber marginalisierten individuellen Narrativen fokussieren. Dass sich Akteure des 1. Deutschen Schriftstellerkongresses 1947 auf Vorkriegstraditionen, deutsche Kultur und Humanismus beriefen, macht deutlich, in welchem Maße intellektuelle, soziale und generationelle Frontlinien häufig quer zu erinnerungskulturellen Vorgaben lagen (Andreas Asocs). Die individuellen Kommunikationsmodi der früheren Widerstandskämpferin Greta Kuckhoff über "Antifaschismus" dagegen lassen individuelle Repräsentations- und Aushandlungsformen der Vergangenheit sowie Sagbarkeitsverschiebungen hervortreten (Joanne Sayner). Umstrittene Gedenkmuster sind gerade anhand der Erinnerungs-Konversion ostdeutscher Kriegsheimkehrer ablesbar: Die Übernahme offizieller Narrative in ihren retrospektiven Vergangenheitsinterpretationen erlaubte es den Akteuren, ihre Einpassung in den neuen Staat zu erleichtern - anders als in der Bundesrepublik, wo andere Gefangenschafts-Narrative dominierten und abweichende Integrationslogiken griffen (Christiane Wienand).
Die Aufsätze des zweiten Abschnittes beleuchten physische, gesundheitspolitische und körpergeschichtliche Themen. Sie akzentuieren wirkmächtige Kontinuitäten sowie überraschende konzeptionelle Ähnlichkeiten zwischen Bundesrepublik und DDR, die trotz systemischer Verschiedenheit fortbestanden. Jeanette Madarász-Lebenhagen gelingt dies bezüglich der Wechselwirkung politischer Strukturen und kultureller Settings bei der Entwicklung von Präventionspraktiken. Bis in die 1960er Jahre griffen beide deutsche Staaten auf gleiche Vorkriegs-Konzeptionen der Gesundheitsfürsorge zurück; auch theoretische Entwürfe, wie das Risikofaktorenmodell, konnten wegen ihrer Flexibilität hier wie dort reüssieren. Gleiches gilt für die frühe Tuberkulose-Politik, die einen vergleichbaren Umgang mit sozialen Problemen nahelegt und als ein Mix aus Tradition und Innovation zu charakterisieren ist (Donna Harsch). Selbst Luxusessen als neue Orte sozialer Differenzierungen funktionierten in der sozial weitgehend egalisierten DDR-Gesellschaft im internationalen bzw. innerdeutschen Vergleich gesehen nach erstaunlich ähnlichen Mustern (Paul Freedman). Die Wirkmächtigkeit von Konstruktionen und Verhaltensweisen aus den Vorkriegsjahren betont auch der Beitrag zur tradierten Bedeutung des weiblichen Körpers (Neula Kerr-Boyle): Physische Disziplinierung, Leistungsfähigkeit, Kampagnen für gesundes Essen und pro "Normalgewicht"- all das gestaltete sich in beiden Nachkriegsgesellschaften erstaunlich ähnlich. Die fein nach Jahrzehnten differenzierte Darstellung deutet auch auf ein wichtiges Paradoxon: Trotz der Proklamation einer "neuen sozialistischen Frau" wurden in der DDR vorsozialistische Weiblichkeitsideale revitalisiert, was die Fortdauer kleinbürgerlichen Geschmacks kenntlich macht.
Der dritte Bereich betrachtet Einschränkungen und Konformitäten. Bezüglich der Prädispositionen im Verhalten der Arbeiterklasse legt Andrew I. Port eine spannende, wenngleich diskussionswürdige These vor: Arbeiter konnten in der DDR auf ein erlerntes Repertoire an Protestverhalten und Trotzigkeit zurückgreifen. Das Ausbleiben großangelegter Arbeiterunruhen nach 1953 erklärt er folglich einerseits mit Versöhnungsbereitschaft und Harmoniebedürfnis "von oben" sowie andererseits der "Meckerkultur" und dem (eingeübten) heimlichen Nonkonformismus "von unten". Das "Meckern" war auch auf anderer Ebene, und zwar im Bereich des Amateur-Fußballs nachweisbar (Alan McDougall). In der Honecker-Ära nahmen Beschwerden über die Sport-Infrastruktur zu, die sich an den sarkastischer, aber auch fordernder werdenden Eingaben rekonstruieren lassen. David G. Tompkins betrachtet den offiziellen Diskurs über das Image "Israel", das nicht recht in die gängige manichäisch-dichotome Weltsicht passen wollte und bis zum Sechstageskrieg 1967 einen Wandel vom potenziellen Freund zum Aggressor und Gegner durchlief. In symbolpolitischer Dimension erhellend sind Tompkins Thesen zur pädagogischen Funktion einer derartigen Image-Kommunikation, die als Brücke zwischen Partei und Bevölkerung fungieren sollte. Der Beitrag zum Disziplinierungsinstrument "Erniedrigung" in frühen Karrierephasen des Parteinachwuchses fällt etwas ab, da die Verknüpfung literarisch-fiktionaler mit realer Erfahrung methodisch insgesamt nicht vollends zu überzeugen weiß (Phil Leask). In dieser letzten Rubrik wirkt die Zusammenstellung am Disparatesten. Aufgrund der Ermangelung einer übergreifenden theoretischen Verortung - der Begriff "agency", wonach ein Großteil der Ostdeutschen ungeachtet der restriktiven Umwelt durchaus eigene Handlungskompetenzen besessen habe, wird zwar von den Herausgebern eingeführt, aber nur selten analytisch aufgegriffen - wird sich der Sammelband insgesamt dem Vorwurf einer gewissen Beliebigkeit gefallen lassen müssen.
Resümierend plädiert Mary Fulbrook dafür, die Beziehungen zwischen Selbstwahrnehmungen und Repräsentationen, Kontinuitäten, den veralltäglichten Umgang mit Herrschaft sowie die verschiedenen Möglichkeiten individueller Konzeptualisierungen sozialer Wirklichkeit stärker zu beleuchten. Die zusammengestellten Beiträge bieten hierfür mehrheitlich instruktive Deutungsangebote und können, unter weitgehender Ausklammerung (nicht jedoch Negierung) des Repressionspotenzials, zumindest ausschnitthaft Stabilität und Langlebigkeit des Regimes erklären. Ob dies, so Fulbrooks Hoffnung, Zugang zum besseren Verständnis des modernen Europas sein kann, darüber wird sich die weitere Forschung verständigen müssen.
Christoph Lorke