Ute Planert: Der Mythos vom Befreiungskrieg. Frankreichs Kriege und der deutsche Süden. Alltag - Wahrnehmung - Deutung 1792-1841 (= Krieg in der Geschichte (KRiG); Bd. 33), Paderborn: Ferdinand Schöningh 2007, 739 S., ISBN 978-3-506-75662-6, EUR 68,00
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Die vorliegende Arbeit entstammt dem Tübinger Sonderforschungsbereich, der sich bis Ende 2008 den "Kriegserfahrungen" in der Neuzeit widmete. Planerts Studie nimmt die süddeutsche Bevölkerung in der Periode der Revolutions- bzw. napoleonischen Kriege in den Blick. Die mittlerweile in Wuppertal tätige Neuzeitlerin schließt sich dabei der Forschungsrichtung an, die versucht, "den Stellenwert der "Befreiungskriege" in der Entwicklung des deutschen Nationalismus zu relativieren" (23). Sie grenzt sich durch einen "dreifachen Perspektivenwechsel" von älteren Darstellungen ab. Sie fokussiert Süddeutschland anstelle von Preußen und die gesamte Epoche der Revolutionskriege ab 1792. Der wichtigste Neuansatz besteht in einem Wechsel der Quellenbasis. Die Autorin will explizit nicht das Kriegserlebnis von "aufgeklärtem Stadtbürgertum und Reformadel" bzw. die Publizistik "einer lautstarken Minderheit" (26) untersuchen. Sie wirft der älteren Forschung vor, die Sichtweise dieser Minorität auf die Gesamtbevölkerung hochgerechnet zu haben. Alternativ will sie die "Kriegserfahrungen breiterer Bevölkerungskreise" darstellen. (27) Diese kamen in den zeitgenössischen Quellen persönlich freilich kaum einmal zu Wort. Als ihre Gewährsmänner nennt sie stattdessen "dörfliche oder kleinstädtische Honoratioren" (30). Methodisch orientiert sich die Verfasserin am Ansatz der Mentalitätsgeschichte, die subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit als "überindividuell determiniert" und von bestimmten Traditionen und Instanzen gefiltert zu betrachten (62). Daneben solle auch der nachträgliche Wandel von Erfahrung untersucht werden.
Die eigentliche Darstellung beginnt mit einem kurzen Abriss der historischen Entwicklung und der damaligen Kriegsführung. Der Krieg habe das Leben der Zivilbevölkerung in bis dahin ungekanntem Ausmaß beeinträchtigt. Entscheidend seien dabei nicht die unmittelbaren Kampfhandlungen gewesen, sondern Plünderungen, Einquartierungen oder Krankheiten. Bei der Darstellung dieser "Schrecken des Krieges" betreibt die Autorin eine sehr genaue Quellenkritik. Die Zeitgenossen hätten generell eher dramatische, denn unspektakuläre Ereignisse überliefert. Daher sei über Exzesse eher berichtet worden als über korrektes Verhalten von Soldaten. Auch die zeitgenössische Interpretation dieses Verhaltens wird genau hinterfragt. Pfarrer etwa hätten Kirchenschändungen als ideologische Taten bewertet, obwohl meistens rein materielle Interessen dahinter gestanden hätten. Prinzipiell hätten Geistliche Soldaten nach ihrer Haltung zur Religion, nicht ihrer Nationalität beurteilt. Auch das Verhältnis der übrigen Bevölkerung zu fremden Truppen sei von deren Verhalten abhängig gewesen und nicht von irgendwelchen nationalen Kriterien. Mitunter hätte sich die Bevölkerung auch mit eigentlich feindlichen Soldaten arrangiert, gemeinsam Geschäfte gemacht oder private Beziehungen geknüpft.
Durch die neu eingeführte Wehrpflicht belasteten die Kriege der Zeit die Menschen in Süddeutschland auch, wenn sie sich weit entfernt abspielten. Dieser "einschneidensten Veränderung" für das Leben der einfachen Bevölkerung (383) widmet sich Planert besonders ausführlich. Detailliert zeigt sie etwa die verschiedenen Versuche, sich dem Wehrdienst zu entziehen. Der Allianzwechsel der süddeutschen Staaten im Jahr 1813 habe kein Ende der Belastungen gebracht, sondern vielmehr neue kostspielige Einquartierungen und Truppenaushebungen. Daher habe der angebliche "Befreiungskrieg" auch keine Begeisterung ausgelöst.
Mit der nachträglichen Mythisierung der Ereignisse befasst sich Planert in den letzten beiden Abschnitten der Arbeit. Sie kritisiert vehement die These, die "Befreiungskriege" markierten "die entscheidende Zäsur in der Genese des modernen Nationalismus" in Deutschland (474). Anhand neuerer Forschungsergebnisse zeigt die Autorin, dass bereits im 18. Jahrhundert alle Aspekte eines "modernen Nationalismus" in Deutschland vorhanden gewesen seien (481). Die ältere Forschung habe daher zu Unrecht behauptet, erst die Revolution habe das deutsche Nationalbewusstsein hervorgebracht. Jenseits der bildungsbürgerlichen Elite greift Planert die These der nationalistischen Wasserscheide unter umgekehrten Vorzeichen an. Außerhalb Preußens könne von einer "allgemein-deutschen Nationalerhebung" für das Jahr 1813 nicht gesprochen werden (489). Die Autorin argumentiert in diesem Kontext höchst differenziert. Sie leugnet keineswegs, dass es nationalistische Begeisterung, vor allem in Bayern, gegeben habe. Sie zeigt jedoch, dass es sich um ein "schichten- und regionenspezifisch" begrenztes Phänomen gehandelt habe (598). In den weniger gebildeten Schichten seien vornationale Weltbilder und Loyalitäten entscheidend gewesen. Somit ließen sich angeblich moderne Denkweisen bereits vor und angeblich veraltete Weltbilder auch noch nach der angeblichen Epochengrenze finden.
Die Vorstellung eines deutschen Nationalkrieges ab 1813 sei erst als Ergebnis aufwendiger "Konstruktionsarbeit" im Nachhinein entstanden (620). Geleistet hätten diese Arbeit nicht nur Historiker, sondern auch die süddeutschen Regierungen. Im Interesse der "Staatsintegration" hätten sie die "polyvalenten" Erfahrungen der napoleonischen Zeit auf einen "einzigen Traditionsstrang" reduziert (627). Die Erinnerung an die Kämpfe auf Seiten Napoleons seien verdrängt oder ohne Rücksicht auf die historischen Widersprüche mit den Kämpfen gegen Napoleon verbunden worden. Wie Planert selbst feststellt, reiht sie sich mit ihrer Kritik an der Mythisierung der Befreiungskriege in eine bereits bestehende Forschungsrichtung ein. Dennoch ist ihre Studie höchst innovativ. Die Autorin erklärt anhand ihres beeindruckenden Quellenfundus genau, welche Ideen und Weltanschauungen an Stelle des unterstellten Nationalismus virulent waren. Die Darstellung der spezifisch süddeutschen Erinnerungspolitik schließt zweifellos eine Forschungslücke. Die Ergebnisse der Quellenanalyse sind zudem auch unabhängig von der Dekonstruktion nationaler Mythen interessant. Schließlich entsteht hier eine detaillierte und anschauliche Alltagsgeschichte einer wenig alltäglichen Zeit. Besonders lobenswert ist dabei die äußerst gewissenhafte und überzeugende Quellenkritik.
Im Vergleich zu diesen großen Verdiensten fallen Kritikpunkte kaum ins Gewicht. Angesichts des umfangreichen Quellenmaterials wirkt es befremdend, dass die Autorin mitunter identische Zitate in verschiedenen Zusammenhängen anführt (etwa auf den Seiten 45 und 37 sowie 579 und 611). Auch inhaltlich treten kleinere Redundanzen auf, etwa beim immer wieder fokussierten Verhalten der Armee des Prinzen Condé. Diese Schwächen ändern nichts daran, dass es sich bei der vorliegenden Studie um eine der wichtigsten Publikationen aus dem Umfeld des Tübinger Sonderforschungsbereichs handelt. Die Arbeit zeigt ein faszinierend detailreiches Bild zeitgenössischer Kriegserfahrungen und ist zugleich ein grundlegender Beitrag zur Nationalismusforschung.
Sebastian Dörfler