Vivian R. Gruder: The Notables and the Nation. The Political Schooling of the French, 1787-1788 (= Harvard Historical Studies; 157), Cambridge, MA / London: Harvard University Press 2007, x + 495 S., ISBN 978-0-674-02534-9, GBP 38,95
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Zu den zentralen Fragen der Geschichte der Französischen Revolution gehört die nach ihrem Charakter: Handelte es sich um eine auf einer breiten sozialen Basis aufsetzende Massenbewegung oder um Machtkämpfe an der Spitze der französischen Gesellschaft, die außer Kontrolle gerieten? War der Weg von der Einberufung der Generalstände in die Revolution unvermeidlich oder wäre er an (fast) jedem Punkt anzuhalten gewesen?
In jüngerer Zeit scheint das Pendel in Richtung der zweiten Thesen ausgeschlagen zu sein. Systematische internationale Vergleiche haben wenig Belege für strukturelle französische Besonderheiten ergeben. Die Steuerlast war in Großbritannien drastisch höher (wenn auch vielleicht etwas gerechter verteilt), die großen Unruhen der 1780er-Jahre fanden in Großbritannien und im Habsburgerreich statt, bei näheren Hinsehen wichen die Forderungen, die in den cahiers de doléances standen, gar nicht sehr von den politischen Zielen der Monarchie ab. Somit war es konsequent, dass sich die Aufmerksamkeit stärker auf die konkreten Wendepunkte der politischen Geschichte der Revolution und auf Ziele, Weltbilder und Erlebnishorizont der handelnden Personen gerichtet hat, ohne dass die Interpretationen dadurch einheitlicher geworden wären, denn hinter der Kontingenz der Ereignisse konnte man einen Putsch der mit der militärischen Performanz ihres Landes unzufriedenen Offiziere ebenso erkennen wie eine Rebellion des niederen Klerus gegen die kirchliche Hierachie.
Methodisch ging es jedoch primär um die genaue Analyse der Vorgänge in den als entscheidend betrachteten Gremien und an den als entscheidend gewerteten Wendepunkten. Vor einiger Zeit hat Timothy Tackett argumentiert, die Weichen für die Revolution seien erst nach dem Zusammentreten der Generalstände in der Versammlung selbst gestellt worden [1], während er und Mona Ozouf in neuen Monografien die Bedeutung der Flucht nach Varennes für den Weg von der (prekären) Kooperation zwischen Monarchie und Nationalversammlung zum kaum noch überwindbaren Konflikt herausgestellt haben. [2]
Vivian Gruders Buch richtet den Blick nun ebenfalls auf einen kurzen Zeitraum, für den sie klären will, was wir über die Politisierung der französischen Gesellschaft vor dem Ausbruch der Revolution wissen (können) - gerade auch in der Provinz. Ihre Geschichte setzt mit dem Zusammentritt der Notablenversammlung 1787 ein und untersucht in drei Teilen die Politisierung der Eliten, die Informationen, welche der lesenden Öffentlichkeit zugänglich waren, und was an der politischen Basis ankam.
Die Notablenversammlung vollzog in ihren verschiedenen Sitzungen einige bemerkenswerte politische Kehrtwendungen. Dabei war wohl keine bedeutsamer als die Abkehr von der Zustimmung, mehr Vertreter des Dritten Standes zu den Generalständen zuzulassen. Das widersprach der Zustimmung zu einer stärkeren Vertretung des Dritten Standes in den Provinzialständen und trug zur Delegitimation der alten Eliten bei.
Gruder zeigt an den Debatten, das sich diese scheinbare Inkonsequenz aus einer Verschiebung des Gegenstands der Diskussion ergab. Ging es zu Anfang darum, wer über die Festsetzung von Steuern entscheiden sollte (in diesem Fall schien eine signifikante Beteiligung des Dritten Standes dessen Beitrag zu den Steuern angemessen zu spiegeln), so wurde am Ende die Frage verhandelt, wer an der Regierung des Landes partizipieren sollte. Dafür hielten die mehrheitlich privilegierten Notablen mit aus ihrer Sicht eminent guten Gründen (mangelnde Erziehung zur Herrschaft, fehlende Sicht auf das große Ganze, niedriger Bildungsstand) den Dritten Stand kaum qualifiziert - da diese Argumente außerhalb der Versammlung kaum Resonanz hatten, verprellten sie große Teile der nichtprivilegierten Öffentlichkeit.
Damit steht die Frage im Raum, wie die Öffentlichkeit trotz der strikten Zensurbestimmungen überhaupt davon erfuhr, was in der Notablenversammlung besprochen wurde. Gruder zeichnet ein umfassendes Bild der Medien, die im Frankreich des Ancien Régime Nachrichten verbreiteten. Sie diskutiert Preise, Inhalte, und Verbreitungsgrad von in- und ausländischen Zeitschriften, Rundbriefen, Pamphleten sowie deren Rezeption in Lesesälen und die Verarbeitung ihrer Botschaften in Festivitäten und Ritualen. Gruder geht davon aus, dass trotz des geringen Alphabetisierungsgrads und der Zensur große Teile der französischen Öffentlichkeit gut über politische Geschehnisse informiert waren. Die Zusammensetzung und die politischen Implikationen dieses Wissens bleiben freilich schwer zu ermitteln. Immerhin vermag Gruder zu zeigen, dass die Polit-Pornografie, der im Gefolge von Robert Darnton eine große Rolle zugeschrieben wird [3], in Wirklichkeit ein marginales Phänomen blieb. In sachlichem Stil gehaltene Berichte dominierten - zumindest, was die Auflagenhöhe betrifft. So war Neckers staubtrockenes "Sur le compte rendu au roi en 1781, nouveaux éclaircissements" der Pamphlet-Bestseller des Jahres 1788.
Es steht auch für Gruder außer Frage, dass sich die einfache Bevölkerung an der schriftlichen Diskussion über Politik praktisch nicht beteiligte. 'Populäre' Pamphlete, die von einem Bauern oder Handwerker geschrieben zu sein vorgaben, stammten meist von (bisweilen namentlich bekannten) Advokaten oder Intellektuellen. Insofern ist es kaum möglich, eine authentische Stimme der Bevölkerung zu rekonstruieren. Dennoch meint Gruder, aus der Summe der indirekten Hinweise bereits in den Diskussionen des Jahres 1788 die Ausbildung und Verbreitung der Konzepte Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erkennen zu können, die somit nicht am Ende, sondern am Anfang des Revolutionsprozesses standen und Begriffe "that summed up and crystallized this prior political experience" waren (291). Um diese These zu erhärten, macht sich Gruder im letzten Teil des Buches auf die Suche nach Dokumenten, aus denen die Stimme einfacher Bauern sprechen kann. Während sich einzelne Beispiele aus verschiedenen Teilen des Landes finden lassen, muss man feststellen, dass diese Suche nicht besonders ergebnisreich ausfällt. Insofern ist es konsequent, dass das letzte Kapitel sich mit den unteren Instanzen der Justiz und politischen Versammlungen auf Provinzebene beschäftigt, wo der Beleg für die wachsende Bedeutung der Forderung nach Selbstregierung statt der bloßen Partizipation an Entscheidungen über Steuerfragen für das Jahr 1788 leichter zu führen ist, allerdings wiederum an einzelnen Beispielen, nicht flächendeckend.
Ohne die Diskussion über die Ursachen der Französischen Revolution zu beenden, hat Vivian R. Gruder ihr durch die pointierte und umfassende Darstellung des Politisierungsschubs von 1787/8 eine neue Dimension verliehen, von der die künftige Forschung auszugehen haben wird. Zugleich zeigt Gruders Buch auch, welche methodischen Hürden dem Versuch entgegenstehen, Aussagen über die politische Agenda der einfachen Bevölkerung Frankreichs vor und um 1789 zu treffen.
Anmerkungen:
[1] Timothy Tackett: Becoming a Revolutionary. The Deputies of the French National Assembly and the Emergence of a Revolutionary Culture (1789 - 1790), Princeton 1996.
[2] Timothy Tackett: When the King Took Flight, Cambridge, Mass. 2003; Mona Ozouf: Varennes. La mort de la royauté (21 juin 1791), Paris 2007.
[3] Vgl. etwa Robert Darnton: The Forbidden Bestsellers of Pre-Revolutionary France, New York 1995.
Andreas Fahrmeir