E. A. Wrigley: Energy and the English Industrial Revolution, Cambridge: Cambridge University Press 2010, XIII + 272 S., ISBN 978-0-521-13185-8, GBP 18,99
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"Eine Geschichte der Industriellen Revolution, die für das Zeitalter des Klimawandels und der Diskussion um 'Peak Oil' konzipiert ist" - so könnte man den neuesten Band E. A. Wrigleys plakativ, aber nicht ganz unzutreffend, beschreiben.
Wrigley richtet an die Geschichte der industriellen Revolution eine nicht ganz neue, aber selten in dieser Weise zugespitzte Frage. Die Problemstellung ist nicht, warum die industrielle Revolution begann und welche Entwicklungen dafür sorgten, dass das ausgerechnet in England geschah, sondern warum sie nicht sofort wieder zum Erliegen kam. Wachstum, das sich selbst trage, sei so unwahrscheinlich, dass man diesen Aspekt des industriellen "take off" sehr viel stärker problematisieren müsse als es gemeinhin geschehe, nicht zuletzt, um die in welthistorischer Perspektive relativ kurze Phase der industriellen Gesellschaft in einen breiteren historischen Rahmen einordnen zu können. Denn viel typischer als das Beispiel England oder die Diskussion über asiatische Wege zur Proto-Industrialisierung sei das Beispiel der Niederlande: in der ausgehenden Frühen Neuzeit hochgradig urbanisiert, mit einem modernen Gewerbe, einem hochgradig progressiven Finanzsektor und einer intensiven Einbindung in den Welthandel ausgestattet - aber nicht Ort einer Industriellen Revolution. Vielmehr brach die Entwicklung im 18. Jahrhundert relativ abrupt ab, so dass das Land von England überholt und erst durch von England ausgehende Impulse im 19. Jahrhundert ebenso industrialisiert zu werden wie weite andere Teile des Kontinents.
Wrigley argumentiert, dass die Geschichte der Niederlande die prinzipiellen Grenzen einer "organischen Ökonomie" deutlich macht. In einer "organischen Ökonomie" beziehen Gesellschaften ihre Energie aus pflanzlicher Photosynthese, also aus einer relativ ineffizienten Umwandlung von Sonnenlicht. Die in Pflanzen gespeicherte Energie wird als Nahrung (für Menschen und Tiere) oder als Wärme (durch das Verbrennen von Holz oder Holzkohle) konsumiert. Windkraft spielte dagegen nur im Fernverkehr zur See eine bedeutende Rolle; Wasserkraft blieb gänzlich marginal. Da jede Form wirtschaftlichen Wachstums den Konsum von Energie voraussetzt, muss selbst dann, wenn es nur darum geht, menschliche Arbeitskraft durch tierische zu ersetzen, zusätzliche Energie (die beispielsweise in Hafer gespeichert ist) bereitgestellt werden. Eine organische Ökonomie braucht einen Großteil der Energie, die ihr zur Verfügung steht, um Menschen und Tiere am Leben zu erhalten; erst, wenn darüber hinausgehende Energie zugeführt wird, können Menschen arbeiten; erst, wenn sehr viel mehr Energie zur Verfügung steht, können sie Tiere füttern und zur Verrichtung von Arbeiten nutzen.
Unter diesen Bedingungen ist das Wachstum durch die Begrenzung von Land beschränkt. Um mehr Tiere in Landwirtschaft oder Verkehr einzusetzen, muss man auf einer größeren Fläche Hafer anbauen. Diese Fläche steht erstens nicht zum Anbau von Holz (für Heizung, Glasbläserei oder Eisenverhüttung) oder anderer Getreidesorten (für Menschen) zur Verfügung; und sie muss zweitens wiederum unter Einsatz von Energie abgeerntet und überquert werden, um das Futter zum Nutzer zu bringen, was in der Regel dazu führt, dass der Preis einer Energiequelle mit wachsendem Abstand steil anstieg, so dass sich der Transport von Energieträgern über weitere Strecken nicht lohnte.
Wrigley erläutert zunächst, dass es auch unter den Bedingungen einer organischen Ökonomie Rückkopplungseffekte gibt, die ein (bescheidenes) Wirtschaftswachstum induzieren: Bevölkerungswachstum; hoher Urbanisierungsgrad, der wegen der in engen geographischen Räumen konzentrierten Nachfrage den Ausbau von Verkehrswegen (Schnellstraßen und vor allem Kanälen) fördert und durch die Verschiebung der Beschäftigung vom Land in die Stadt zu einem Anstieg der Reallöhne führt. Das fördert wiederum die Nachfrage nach gewerblich gefertigten Waren - allerdings auch den Energiebedarf, was die Entwicklung in der Regel durch einen negativen Rückkopplungseffekt zum Abbruch bringt. Das geschah in den Niederlanden, wo der Abbau von Torf es nur erlaubte, den steigenden Energiebedarf kurzfristig aus kleinen Flächen zu decken.
Bekanntlich passierte in der englischen industriellen Revolution etwas anderes. Der Rückgriff auf Kohle, der praktisch keinen Landbedarf generierte, erlaubte es, die Regeln der organischen Ökonomie (vorübergehend) außer Kraft zu setzen und damit den negativen Rückkopplungseffekt (vorübergehend) zu vermeiden. Entscheidend dafür war, so Wrigley, dass England relativ früh einen signifikanten Teil seines Energiebedarfs aus Kohle deckte. Der Transport aus der Tyne Region nach London war relativ kostengünstig und stieß den Bau von Eisenbahnen an, da Kohle von Punkt zu Punkt transportiert werden konnte und nicht - wie Holz - von Fläche zu Punkt transportiert werden musste.
Dazu kamen eine Reihe günstiger Koinzidenzen. Als Kohle knapp zu werden begann, ermöglichte die Erfindung der Dampfpumpe den Zugang zu tiefergelegenen Vorkommen, ohne dass man mehr Futteranbaufläche für Zugtiere zum Antrieb von Pumpen benötigt hätte. Die Entdeckung, dass aus Kohle gewonnene Energie nicht nur Häuser heizen und Erze schmelzen, sondern auch Transportmittel antreiben konnte, erlaubte den immer weiter gehenden Verzicht auf Zugtiere für Handel und Verkehr ebenso wie die Mechanisierung immer weiterer Teile der gewerblichen Produktion.
Wrigley erklärt die Tatsache, dass die energetische industrielle Revolution ausgerechnet um 1800 in England stattfand, also mit der langen Geschichte des englischen Kohlekonsums, der bereits im frühen 19. Jahrhundert eine Menge an Energie bereitstellte, der nur durch eine Forstwirtschaft generiert worden wäre, welche die Größe der Insel deutlich überstieg. Somit wird die relativ leichte Zugänglichkeit von Kohle in bequemer Reichweite von London, das sich zu Europas größter Stadt entwickelte, zentral. Obgleich er den eigentlichen Durchbruch der Industrialisierung mit den Jahrzehnten um 1800 relativ spät datiert, argumentiert Wrigley somit mit einer langen Vorgeschichte: Die entscheidenden Besonderheiten der englischen Energieversorgung begannen sich bereits im 17. Jahrhundert abzuzeichnen. Das langfristige Ausbleiben der negativen Rückkopplungseffekte bei wachsendem Energiekonsum erlaubte somit England (aber nicht den Niederlanden), ein sich selbst tragendes Wachstum zu induzieren. Die Frage, warum ähnliche Entwicklungen in anderen Teilen der Welt mit leicht zugänglichen Energievorkommen nicht stattfand, interessiert Wrigley dagegen weniger - ob andere Heirats- und Reproduktionsmuster, die Besonderheiten der Geographie oder kulturelle Faktoren, die eine Erfindung der Dampfmaschine mehr oder weniger wahrscheinlich werden ließen dafür entscheidend waren, gerät somit weniger intensiv in den Blick.
Wrigleys zentraler Punkt ist auch ein anderer. Die industrielle Revolution habe eine Büchse der Pandora geöffnet, die - indem sie die Grenzen einer organischen Ökonomie aufhob - Wachstum und Wohlstand in ungeahntem Ausmaß freisetzte. Letztlich sei der Ausbruch aus der organischen Ökonomie dadurch aber nicht gelungen: im Moment lebe man nur durch den Rückgriff auf vergangene Photosynthese; das niederländische Problem, dass der Torf-Vorrat irgendwann zu Ende geht, sei also auf globaler Ebene keineswegs gebannt. Dazu kommt ein weiteres Problem: Die Folgen der Industrialisierung, etwa im Bereich des Klimawandels, seien noch gar nicht abzuschätzen. Es könnte also sein, dass das Öffnen dieser Büchse der Pandora - in Umkehrung der Legende - nach der großen Hoffnung doch noch das böse Erwachen nach sich zieht, sofern es nicht gelingt, alternative Energiequellen zu erschließen, die eine Rückkehr zur organischen Ökonomie, deren Rahmenbedingungen das Schicksal der Menschheit bestimmten, weiter hinauszögern.
Andreas Fahrmeir