Annette Weinke: Eine Gesellschaft ermittelt gegen sich selbst. Die Geschichte der Zentralen Stelle Ludwigsburg 1958-2008, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 224 S., ISBN 978-3-534-21950-6, EUR 39,90
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Hans H. Pöschko (Hg.): Die Ermittler von Ludwigsburg. Deutschland und die Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen, Berlin: Metropol 2008, 192 S., ISBN 978-3-938690-37-6, EUR 19,00
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Tobias Herrmann / Gisela Müller: Mitteilungen aus dem Bundesarchiv. Themenheft 2008: Die Außenstelle Ludwigsburg, Koblenz: Bundesarchiv 2008, 120 S., ISSN 0945-5531
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Marc von Miquel: Ahnden oder amnestieren? Westdeutsche Justiz und Vergangenheitspolitik in den sechziger Jahren, Göttingen: Wallstein 2004
Günther Wieland: Naziverbrechen und deutsche Strafjustiz. Herausgegeben von Werner Röhr, Berlin: Edition Organon 2004
Monika Bergmeier: Umweltgeschichte der Boomjahre 1949-1973. Das Beispiel Bayern, Münster: Waxmann 2002
Klaus Marxen / Annette Weinke (Hgg.): Inszenierungen des Rechts. Schauprozesse, Medienprozesse und Prozesse, Medienprozesse und Prozessfilme in der DDR, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2006
Annette Weinke: Law, History, and Justice. Debating German State Crimes in the Long Twentieth Century. Translated from the German by Nicholas Evangelos Levis, New York / Oxford: Berghahn Books 2018
Annette Weinke: Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949-1969 oder: Eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2002
Am 1. Dezember des vergangenen Jahres feierte die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, meist kurz Zentrale Stelle (ZSt) genannt, ihr 50-jähriges Bestehen. Die 1958 durch eine Verwaltungsvereinbarung der Bundesländer ins Leben gerufene Behörde brachte eine Wende in der bis dahin eher zögerlichen und unsystematischen strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen und gilt inzwischen auch international als Aushängeschild des deutschen Umgangs mit der NS-Vergangenheit. Das Jubiläum wurde mit einem großen Festakt im Barockschloss der Stadt und einem zweitägigen Fachsymposium begangen. Dabei waren sowohl Lob als auch kritische Töne an den Ergebnissen der bundesdeutschen Strafverfolgung von NS-Verbrechen zu hören gewesen. Pünktlich zum Jubiläum erfolgten mehrere Veröffentlichungen, die sich mit der Arbeit und dem Umfeld der Zentralen Stelle befassen.
Wenig positiv - soviel vorweg - fällt die Bilanz aus, die Annette Weinke in ihrer im Auftrag der "Forschungsstelle Ludwigsburg" der Universität Stuttgart verfassten Studie über die ZSt zieht. Schon bei der Gründung der Behörde und den beiden sogenannten Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958 zutage getretenen Ermittlungsdefiziten macht die Autorin "kardinale Geburtsfehler" (28) aus. Die ZSt wurde nämlich lediglich mit Vorermittlungen betraut, zunächst nur für einen sehr eng begrenzten zeitlichen Rahmen von einigen Jahren konzipiert, nur mit wenig Personal ausgestattet und in ihrer Zuständigkeit beschränkt. So blieben etwa im Inland begangene Straftaten und Verbrechen der Wehrmacht lange ausgeklammert. Auch wenn sich die Ludwigsburger Ermittler mit Verve in die Arbeit stürzten, im ersten Jahr ihres Bestehens an die 400 Vorermittlungsverfahren einleiteten und bald erste Erfolge erzielten, ließen sich die Defizite nicht mehr aufholen. Denn schon 1960 verjährte Totschlag (der später gerade vielen Wehrmachtsangehörigen bei Tötungsverbrechen zugebilligt wurde) und bis 1941 begangene Beihilfe zum Mord. Zudem behinderten mangelnde historische Kenntnisse, hohe psychische Belastung angesichts der grausamen Tatgeschehnisse sowie Seilschaften ehemaliger Nationalsozialisten und Gestapobeamter in Polizei und Kripo die Aufklärung.
Auf der anderen Seite bildete sich "ein kleiner Kreis aus Sympathisanten und Unterstützern" (60) einer forcierten Aufklärung der NS-Verbrechen, vorwiegend Journalisten wie etwa Ernst Müller-Meiningen junior oder Juristen, die mit ihrem Verlangen nach öffentlicher Debatte auch für einen Wandel im Umgang mit der NS-Vergangenheit standen. Weinke führt hier als Beispiel die Mannheimer Staatsanwältin Barbara Just-Dahlmann an, die öffentlichkeitswirksam von ihren Erfahrungen und Problemen bei der Ermittlungsarbeit in Ludwigsburg berichtete, sich damit Schwierigkeiten mit ihrem Arbeitgeber einhandelte, durch ihr Engagement jedoch letztlich die bis dahin eher als Amnestiebefürworter auftretende evangelische Kirche zu einem Bekenntnis zur weiteren Aufklärung der NS-Straftaten brachte.
Da den Ludwigsburger Ermittlern insbesondere durch Recherchen im Ostblock große Mengen an neuem Material zugänglich wurden, erfuhr ihre Behörde im Vorfeld der 1965 anstehenden, dann aber vom Bundestag zunächst verschobenen und schließlich 1979 ganz aufgehobenen Verjährung von Mord eine erhebliche Aufwertung. Ihr Personal wurde aufgestockt und ihre Zuständigkeit ausgeweitet. Weinke sieht dabei die Haltung des Leiters der ZSt, Erwin Schüle, sehr kritisch. Schüle nämlich hatte den Anschein zu erwecken versucht, als seien alle noch offenen Verbrechenskomplexe ausreichend ermittelt und eine Verjährung deswegen kein Problem. Als er 1965 wegen seiner ehemaligen NSDAP-Mitgliedschaft (seit 1937) aus dem Ostblock unter Beschuss geriet, verhielt er sich zudem recht ungeschickt und rückte nur stückweise mit der Wahrheit heraus. Nachdem schließlich im darauffolgenden Jahr aus der Sowjetunion auch noch Vorwürfe wegen angeblicher Beteiligung an Kriegsverbrechen als Angehöriger der Wehrmacht auftauchten, trat Schüle gesundheitlich angeschlagen zurück und wurde durch den unbelasteten Adalbert Rückerl ersetzt.
Unter dessen Führung begann sich das "Provisorium" ZSt zu etablieren, blieb aber weiterhin nicht ohne Anfechtungen. Der ehemalige Generalbundesanwalt Max Güde kritisierte die Ermittler im SPIEGEL als "nützliche Idioten" Moskaus. Der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes gab im Zusammenwirken mit der Zentralen Rechtsschutzstelle (ZRS) des Auswärtigen Amtes, die sich um die im Ausland angeklagten und verurteilten deutschen Kriegsverbrecher kümmerte, ein Blatt heraus, das die Namen von wegen NS-Verbrechen gesuchten Personen veröffentlichte. Bereits Ende der Fünfzigerjahre hatte die ZRS den Ludwigsburgern den Einblick in ihre Unterlagen mit Hinweis auf den Vertrauensschutz der Betroffenen verwehrt.
Erst gegen Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre machte sich allgemein ein Einstellungswandel gegenüber NS-Prozessen bemerkbar. Bis dahin hatte sich immer mindestens die Hälfte der Bevölkerung ablehnend gezeigt. Die Arbeit der Ludwigsburger Ermittler geriet in den letzten Jahrzehnten aber immer mehr zu einem "Wettlauf gegen die Zeit" (142), da sowohl die Zeugen als auch die Täter aus Altersgründen immer weniger wurden.
Mit der ZSt habe, so bilanziert die Autorin, die Bundesrepublik einen "Sonderweg im Umgang mit staatlicher Makrokriminalität" eingeschlagen. Dieses "Experiment einer gesellschaftlichen Selbstaufklärung mittels Recht" (170) habe auf der einen Seite zu einem nachhaltigen Wandel im Umgang mit den deutschen NS-Verbrechen geführt und in Form der bei den Strafverfahren praktizierten akribischen Ermittlungen die historische Aufklärung befördert. Auf der anderen Seite aber stünden erhebliche Kosten. Zum einen sei man nicht in der Lage gewesen, auch nur das Gros der führenden Täter einer Strafe zuzuführen und damit die Menschenrechtsverletzungen sichtbar zu machen. Zum andern sei die Verfolgung von Blindstellen und Rücksichtnahmen geprägt gewesen, die bis heute etwa eine Bestrafung der Kriegsverbrechen in Süd- und Südosteuropa verhindert habe. Die juristische Bilanz, meint Weinke, könne deshalb "insgesamt nur als Fehlschlag bewertet werden" (168), auch weil es nicht gelungen sei, Ergebnisse hervorzubringen, die bei der Ahndung von Makrokriminalität in irgendeiner Weise modellbildend gewesen seien.
Weinkes Buch ist keine klassische Behördengeschichte, bereits einleitend schränkt die Autorin ein, dass es ihr vor allem um eine "Standortbestimmung Ludwigsburgs in der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte" (9) gehe und sie deshalb das "politische und soziale Umfeld der Arbeit der Strafverfolger" und die "Wechselbeziehungen zwischen strafrechtlicher Ermittlungsarbeit, historisch-politischen Selbstverständigungsdiskursen sowie der öffentlichen Wahrnehmung von NS-Verbrechen, Tätern und Opfern" in das Zentrum ihres Interesses gestellt habe (7). Der Untertitel des Buches verspricht daher deutlich zu viel. Zudem liegt der zeitliche Schwerpunkt des Werkes in den ersten zehn Jahren des Bestehens der ZSt, denen allein fünf der sechs grob chronologisch gegliederten Kapitel gewidmet sind. [1] Etwas zu kurz kommt auch die Innensicht der Behörde, ihre Struktur, ihr Personal und die tagtägliche Arbeit der Ermittler.
Die Autorin verfügt über eine breite Literaturkenntnis, argumentiert meist auf dem neuesten Stand der Forschung und vermag aufgrund der Auswertung neuer Quellen zum Teil neue Einblicke in die Geschichte der bundesdeutschen Strafverfolgung von NS-Verbrechen zu vermitteln. Das Buch ist gut lesbar, und Weinke geizt nicht mit pointierten Aussagen, von denen einige allerdings zu Widerspruch Anlass geben, weil sie die zeitgenössischen Gegebenheiten zu wenig berücksichtigen. So wird man für die Mitte der 1950er Jahre weniger von einem "fast völligen Stillstand" (12) der Strafverfolgung sprechen müssen, als vielmehr von einem langsamen Auslaufen. Insofern scheint es auch etwas verfehlt in der Gründung der ZSt eine "Wiederaufnahme von NS-Ermittlungen" (10) zu sehen, eher handelte es sich um einen Neuanfang aufgrund eines anderen, systematischen Ermittlungsansatzes. Aufgrund seiner Beispiellosigkeit kann man diesen Schritt letztlich durchaus auch positiver bewerten, als die Autorin dies tut.
Der von Hans H. Pöschko herausgegebene Sammelband eignet sich gut, um sich einen ersten Überblick über den Verlauf und die Probleme der Ermittlungstätigkeit sowie die nunmehr vielfältigen Aktivitäten im Umfeld der Ludwigsburger Behörde zu verschaffen. In seinem Zentrum steht ein von den beiden Bundesarchivmitarbeitern Andreas Kunz und Melanie Werth verfasstes und reich mit Fotos und Aktenfaksimiles bebildertes "Kompendium zur Geschichte und Tätigkeit der Zentralen Stelle", das gleichzeitig den Begleittext zu der im historischen Torhaus an der Schorndorfer Straße in Ludwigsburg gezeigten Ausstellung "Die Ermittler von Ludwigsburg" bildet.
Der Band wird ergänzt durch einen Bericht des derzeitigen Leiters der zentralen Stelle, Kurt Schrimm, über seine Ermittlungstätigkeit als Staatsanwalt im Fall des 1992 vom Landgericht Stuttgart zu lebenslanger Haft verurteilten ehemaligen Leiters eines Zwangsarbeitslagers für Juden in Przemyśl, Josef Schwammberger; eine vergleichende Betrachtung zur strafrechtlichen Aufarbeitung der NS- und der SED-Diktatur aus der Feder von Schrimms Stellvertreter Joachim Riedel sowie einen Aufsatz von Heike Krösche über die vielschichtige öffentliche Reaktion auf die Gründung der ZSt. [2]
Dass der von Peter Steinbach in seiner einleitend abgedruckten Festrede zum 40. Gründungstag 1998 eingeforderte Ausbau der ZSt zu einem "deutschen Erinnerungsort" inzwischen gut vorangekommen ist, dokumentieren die Beiträge von Hans. H. Pöschkö über den Förderverein Zentrale Stelle e.V., von Klaus Michael Mallmann über die Forschungsstelle Ludwigsburg der Universität Stuttgart, von Bern Kreß über die ZSt als Lernort für Schulen und von Andreas Kunz über die Erschließung und Sicherung der Akten der ZSt durch das Bundesarchiv.
Diese Akten der strafrechtlichen Ermittlungsverfahren zu NS-Verbrechen sind inzwischen zu einer fast unverzichtbaren Quelle für Forschungen über die NS-Zeit geworden. [3] Wer sich näher für die Außenstelle des Bundesarchivs in Ludwigsburg interessiert oder dort einen Besuch plant, der sei abschließend noch auf das kostenlose und auch im Netz verfügbare Themenheft 2008 der Mitteilungen aus dem Bundesarchiv hingewiesen. [4] Darin geben Archivmitarbeiter detailliert Auskunft über Inhalt und Erschließung der Bestände der ZSt, wobei allerdings die enthaltenen Ausführungen zu den juristischen Grundlagen der Strafverfolgung nicht immer zuverlässig sind. Ergänzt wird das Heft durch Beiträge von Fachhistorikern, die konkret Beispiele für neue, auf den Ludwigsburger Akten basierende Forschungen geben und in die Dimension der NS-Verbrechen einführen.
Anmerkungen:
[1] Eine Ergänzung für die späteren Jahren bietet der Aufsatz von Kurt Schrimm / Joachim Riedel: 50 Jahre Zentrale Stelle in Ludwigsburg. Ein Erfahrungsbericht über die letzten zweieinhalb Jahrzehnte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 56 (2008), 525-555.
[2] Der Aufsatz ist inzwischen in erweiterter Form auch in der Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 56 (2008), 338-357, erschienen.
[3] Siehe jetzt auch Jürgen Finger / Sven Keller / Andreas Wirsching (Hgg.): Vom Recht zur Geschichte. Akten aus NS-Prozessen als Quellen der Zeitgeschichte, Göttingen 2009.
[4] http://www.bundesarchiv.de/aktuelles/aus_dem_archiv/mitteilungen/00234/index.html
Andreas Eichmüller