Rezension über:

Kathrin Utz Tremp: Von der Häresie zur Hexerei. "Wirkliche" und imaginäre Sekten im Spätmittelalter (= Monumenta Germaniae Historica. Schriften; Bd. 59), Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2008, XXIX + 703 S., ISBN 978-3-7752-5759-6, EUR 75,00
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Rezension von:
Romedio Schmitz-Esser
Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Martina Giese
Empfohlene Zitierweise:
Romedio Schmitz-Esser: Rezension von: Kathrin Utz Tremp: Von der Häresie zur Hexerei. "Wirkliche" und imaginäre Sekten im Spätmittelalter, Hannover: Hahnsche Buchhandlung 2008, in: sehepunkte 9 (2009), Nr. 9 [15.09.2009], URL: https://www.sehepunkte.de
/2009/09/15333.html


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Kathrin Utz Tremp: Von der Häresie zur Hexerei

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Die Verfasserin dieses umfangreichen Bandes ist in den letzten Jahren durch zahlreiche Arbeiten zu den Waldensern und der Geschichte des Hexenglaubens im Spätmittelalter hervorgetreten; bereits die Bibliographie dieses Bandes weist nicht weniger als 18 ihrer eigenen Publikationen zum Thema auf (XXVII-XXIX), wobei hier nur an die Arbeit über die Waldenserprozesse von Freiburg im Üchtland von 1999 und den damit zusammenhängenden Quellenband vom Folgejahr erinnert sei.[1] Nach einer umfangreichen Einführung (1-47), in der Utz Tremp die von ihr in erster Linie herangezogenen Quellen und den Forschungsstand diskutiert, wird in zwei großen Teilen die eigentliche Untersuchung vorgenommen. Dabei entsprechen die beiden Teile der Gliederung der Grundthese des Buches: Während sich der erste Teil mit den "wirklichen" Häresien des Hoch- und Spätmittelalters, namentlich den Katharern und Waldensern, beschäftigt, gilt die Aufmerksamkeit des zweiten Teils den Luziferianern, der Häresie des Freien Geistes und den Hexen, die Utz Tremp als "imaginäre" Sekten bezeichnet und die demnach erst durch die Inquisition des Spätmittelalters zu häretischen Sekten stilisiert worden seien.

Der erste Teil der Studie befasst sich zunächst mit den Katharern, die unter Heranziehung der Standardwerke (Lambert, Le Roy Ladurie) allgemein eingeführt und im Rahmen der Prozesse um die Bewohner von Montaillou genauer analysiert werden (48-118). Dabei erkennt Utz Tremp in der Spendung des "consolamentum" und im "melioramentum", der Huldigung gegenüber den katharischen Perfekten, Präfigurationen von nächtlichem Hexensabbat und Teufelspakt.

Unter ähnlichen Vorzeichen bespricht Utz Tremp auch die Waldenser (119-166), deren Auftauchen und Entwicklung sie von der Gründung durch Petrus Valdes am Ende des 12. bis zum 16. Jahrhundert verfolgt. Über weite Strecken stützt sich dieses dritte Hauptkapitel auf die Arbeiten von Euan Cameron und Gabriel Audisio; so gleicht dieses Kapitel tatsächlich einer "Einführung in die Geschichte der Waldenser" (152). Im Falle der Waldenser sind es die diesen vorgeworfenen nächtlichen Orgien und die Hypokrisie, die auf die Hexenstereotype vorausdeuten. Utz Tremp zeigt zudem, wie die Verfolgung der Waldenser und der Hexen sich im 15. Jahrhundert wechselseitig beeinflussten, was ihrer Grundthese einer "inquisitoralen" Erfindung des Hexenkultes weiteren Vorschub leistet; einer "schamanischen" Erklärung der Hexerei, wie sie Wolfgang Behringer aufgebracht hat, steht die Verfasserin folglich kritisch gegenüber (162-166).

Im Blick auf die Häresien im Piemont des 14. Jahrhunderts (167-274) analysiert Utz Tremp die Prozesse von Giaveno, von Lanzo, von Pinerolo und Turin im 14. Jahrhundert, um mit Grado G. Merlo die Vermischung waldensischer, katharisch-dualistischer und magisch-hexerischer Elemente festzustellen. Anders als Merlo aber glaubt Utz Tremp nicht an eine Vermischung dieser Elemente innerhalb der Häresien, sondern sieht in der Befragung der Inquisitoren den eigentlichen Vermengungspunkt. Ähnlich verfährt Utz Tremp auch in dem direkt anschließenden Unterkapitel, das sich den Waldensern in der Mark Brandenburg, in Pommern und Österreich zuwendet (275-310). Dabei zeigt sie hier Prozessbeispiele auf, in denen ähnlich wie im Falle des Piemont Vorstellungen von Waldensern mit jenen der Luziferianer vermischt wurden, wenngleich hier mit Peter Zwicker, der zugleich die Klammer des Kapitels bildet, zumindest noch ein Inquisitor Ende des 14. Jahrhunderts versuchte, eine Scheidung zwischen beiden Lagern vorzunehmen.

Der zweite Teil des Buches ist den imaginären Sekten gewidmet. Hierunter fällt zunächst das Aufkommen des Luziferianer-Stereotyps im 13. und 14. Jahrhundert (311-353). Mit Alexander Patschovsky macht Utz Tremp diese Sekte als "Zerrbild der Katharersekte" (351) aus. Den Vorwurf einer Mitgliedschaft habe man zunächst auf mehrere tatsächlich existierende Sekten angewandt, während sie dann im Laufe des 15. Jahrhunderts zu einer real nicht existierenden Sekte stilisiert wurde und in der "imaginären Hexensekte" (352) aufging. Dazu passt auch die Untersuchung der Sekte vom Freien Geist, an der Utz Tremp exemplifiziert, wie aus einer durchaus bestehenden Häresie von deren katholischen Verfolgern eine ganze "Sekte" gemacht wurde, die als solche gar nicht existierte (354-382).

Als Höhepunkt der Studie stellt Utz Tremp dann den Übergang von der Häresie zur Hexerei im Spätmittelalter dar (383-440). Diesen Überlegungen sind zwei Kapitel zur Hexensekte in der Westschweiz und speziell in Freiburg beigegeben (441-623). Im folgenden Schlussteil geht Utz Tremp auf die Hexenverfolgungen von Arras 1459-1460 und im Wallis 1467 ein (624-640), um schließlich in einem Rückblick die von ihr entwickelte Chronologie der Ereignisse vom 13. bis zum 16. Jahrhundert zusammenzufassen (641-669). Ein Namensregister schließt den Band ab.

Etwas kleinlich wäre es vor dem Hintergrund der großen These des Buches und in Anbetracht seines Umfanges, auf die hin und wieder vorkommenden Tippfehler hinzuweisen; lediglich der kuriose Hinweis auf eine im Band gar nicht gebotene Abbildung sei erwähnt (23). Viel eher stellt sich den Leserinnen und Lesern gerade im ersten Teil mit seinem über weite Strecken einführenden Charakter jedoch die Frage, ob die These des Bandes nicht auch auf deutlich weniger als 703 Seiten Platz gefunden hätte. Inhaltlich kann Utz Tremp hingegen durchaus überzeugen und es handelt sich bei dieser breit angelegten, souveränen Arbeit um einen großen Wurf für die Häresiologie des Spätmittelalters. Gerade hier aber würde der Rezensent dafür plädieren, den Schwerpunkt in der Diskussion zeitlich weiter nach vorne zu verlegen: Wenn es stimmt, dass der Hexenglauben von den Inquisitoren selbst "erfunden" wurde, wie lassen sich dann die durchaus schon in karolingischer Zeit vorkommenden Nennungen von "strigae" erklären? Insbesondere die kleineren Schwachstellen im Quellen- und Literaturverzeichnis (XVII-XXIX) des vorliegenden Bandes sind dabei bezeichnend: So hätte ein Blick in Behringers Aufstellung von Hexenprozessen etwa die Wettermacherinnen von Freising in den Annalen von Weihenstephan 1090 in den Fokus gerückt.[2] Handelt es sich also hierbei um völlig andere Phänomene, oder gibt es einen älteren Traditionsstrang, den man neben der Erfindung der konkreten Ausformungen der Hexerei durch die Inquisition verfolgen sollte? Der vorliegende Band regt zu solchen zeitlich übergreifenden Fragestellungen an.


Anmerkungen:

[1] Kathrin Utz Tremp: Waldenser, Wiedergänger, Hexen und Rebellen. Biographien zu den Waldenserprozessen von Freiburg im Üchtland (1399 und 1430), Freiburg i. Ü. 1999; Kathrin Utz Tremp: Quellen zur Geschichte der Waldenser von Freiburg im Üchtland (1399-1439) (= MGH Quellen zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 18) Hannover 2000.

[2] Wolfgang Behringer (Hg.): Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, München 2006, 6. Auflg. Behringer wird in der Bibliographie nur mit einem einzigen Werk zitiert (XVII).

Romedio Schmitz-Esser