Leonid Luks: Zwei Gesichter des Totalitarismus. Bolschewismus und Nationalsozialismus im Vergleich. 16 Skizzen, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2007, 306 S., ISBN 978-3-412-20007-7, EUR 24,90
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Die vorliegende Aufsatzsammlung trägt absichtsvoll im Untertitel den Zusatz "16 Skizzen". Dem Leser wird signalisiert, dass ihn kein systematisch angelegter, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden fragender Vergleich erwartet. Der Band enthält vielmehr Detailstudien zu jenen beiden Großdiktaturen, die das 20. Jahrhundert prägten. Bis auf eine Ausnahme veröffentlichte der Lehrstuhlinhaber für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt, Leonid Luks, die Beiträge in den Jahren 1988 bis 2007 in Zeitschriften. Kenntnisreich unterzieht er zentrale Elemente des Nationalsozialismus und des Bolschewismus einer vergleichenden Betrachtung, um zwischen Besonderem und Typischem der Diktaturen zu differenzieren und Pauschalurteile über beide politischen Systeme auszuräumen und zu widerlegen. Mit profunder Sachkenntnis sucht er nach Antworten auf die Frage, warum es Auschwitz und den Archipel Gulag gab und warum die beiden von ihm analysierten "zivilisationsfeindlichen Strömungen ausgerechnet in Russland und in Deutschland ihre radikalste Ausprägung" fanden (8).
Der Sammelband ist untergliedert in drei Rubriken und wendet sich im ersten Teil zunächst den geistigen Grundlagen der Entstehung von Bolschewismus und Nationalsozialismus zu. Ehe Luks auf die Zusammenarbeit Lenins mit der Obersten Heeresleitung des Wilhelminischen Kaiserreichs und die Totalitarismusanalyse des russischen Philosophen Semen L. Frank eingeht, vergleicht er die Ausführungen Dostoevskijs und Heinrich von Treitschkes zu Nationalismus und Antisemitismus sowie die Lenins und Chamberlains zur Revolution. Die Kampfschrift des nachmaligen Revolutionärs "Was tun?" und das Elaborat "Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" betrachtet Luks als zunächst utopische Entwürfe, die aber von den Diktatoren als Vorlagen politischen Handelns betrachtet worden seien (69).
Im zweiten Teil untersucht Luks konkrete Phänomene der Verwandtschaft und Differenz von Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus. Zunächst fasst er in dem Aufsatz "Ursachen für die Fehleinschätzung der rechtsextremen Massenbewegungen durch die Bolschewiki" die Ergebnisse seiner Habilitationsschrift über die kommunistische Faschismustheorie zusammen. [1] Danach kritisiert Luks die unausgewogene Deutung des Nationalsozialismus als einer Reaktion auf die bolschewistische Bedrohung (Ernst Nolte) sowie den ähnlich gelagerten Versuch einer Erklärung des Holocaust durch Johannes Rogalla von Bieberstein. Größere Erklärungskraft für die Entstehungsbedingungen totalitärer Herrschaft findet er in den biographisch gesättigten Schilderungen des stalinistischen Terrors durch die Schriftsteller Vasilij Grossman und Aleksander Wat. Beide betrachteten die Komplizenschaft zahlreicher Parteimitglieder und ihre Involvierung in die Verbrechen als eine wesentliche Ursache ihrer Unfähigkeit, sich gegen das Terrorregime Stalins aufzulehnen. Auf der anderen Seite sei der reibungslose Ablauf des Holocaust "ohne die unterwürfige Hinnahme dieser Mordorgie durch die Mehrheit der Bevölkerung in allen Gebieten" des nationalsozialistischen Machtbereichs nicht möglich gewesen (210).
Nachdem Luks Vergleiche des britischen Historikers Richard Overy zwischen dem rassistischen Eroberungskrieg der Wehrmacht gegen die Sowjetunion und dem gegenwärtigen Krieg im Irak als irreführend zurückgewiesen hat, kommt er im abschließenden Teil III zu den Betrachtungen über die Gefahren des russischen Rechtsextremismus in der Gegenwart. Gerade bei diesen überaus interessanten, weil von einem intimen Kenner der Verhältnisse verfassten Beiträgen über die extremistischen Konstellationen in der russischen Gesellschaft macht sich ein konzeptioneller Mangel des Sammelbandes bemerkbar. Zwar erwähnte Luks in der Einleitung einschränkend, das Buch habe den Charakter einer thematischen Annäherung und deshalb dürfe eine erschöpfende Auskunft nicht erwartet werden, aber es fehlt dennoch eine Bilanz und die Einordnung der ja teils bis zu zwei Jahrzehnte zurückliegenden Erstveröffentlichungen in den aktuellen Forschungskontext.
Luks war sich dieses Problems bewusst. In einem FAZ-Artikel vom Dezember 1993 über den Wahlsieg Vladimir Zirinovskijs warnte er unter Hinweis auf entsprechende historische Prozesse in der Weimarer Republik vor einer Unterschätzung der russischen Rechtsextremisten. Jetzt fügt Luks in einer nachträglichen Schlussbemerkung hinzu, dass, obwohl sich einige seiner damaligen Befürchtungen nicht bestätigten, "die faschistische Herausforderung auch heute noch eine akute Gefahr für das postsowjetische Russland" darstelle (278). Doch dieser knappen Aussage wird keinerlei Erklärung nachgeschoben und der Leser kann sie lediglich registrieren. Daraus erwächst der Eindruck, der Autor habe die Schwachstelle einer bloßen Aufsatzsammlung wahrgenommen und sich trotzdem nicht der Mühe einer bilanzierenden Analyse unterzogen. Tatsächlich spiegeln die Beiträge einen jetzt zumindest partiell ergänzungsbedürftigen "Forschungsstand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung wider" (12), und damit eine verpasste Gelegenheit.
Luks demonstriert mit seinen scharfsinnigen und prägnanten Einwänden gegen Noltes einseitige Interpretation der nationalsozialistischen Herrschaft, wie überaus interessant und aufschlussreich die komparative Diktaturforschung sein kann. Dazu wären allerdings grundlegende theoretische Überlegungen zur Beschaffenheit eines Analyserasters erforderlich, das allgemeingültige Kriterien für die Zuordnung einzelner totalitärer Phänomene zu einem bestimmten Herrschaftstypus bereitstellte. Auch fehlt ein Resümee über die Chancen und Grenzen des Vergleichs totalitärer Herrschaft anhand der vorgestellten Beispiele; dadurch wird eine Möglichkeit versäumt, die Problemfelder, Perspektiven und Fragehorizonte des Systemvergleichs erneut in die Forschungsdebatte ein- und diese voranzubringen. Das ist zu bedauern, weil trotz langjähriger Auseinandersetzungen über die Reichweite der komparativen Diktaturforschung bislang kein Forschungsdesign zur Verfügung steht, das breiter angelegt ist und nicht nur für enge Ausschnitte zutrifft. Ungeachtet dieser Einschränkungen zeichnet sich der mit einem Personenregister abgerundete Band dadurch aus, dass er umfassend in die langjährigen Forschungen von Leonid Luks über den Totalitarismus einführt und die Vielschichtigkeit seines komplexen Werkes erschließt.
Anmerkung:
[1] Leonid Luks: Entstehung der kommunistischen Faschismustheorie. Die Auseinandersetzung der Komintern mit Faschismus und Nationalsozialismus 1921-1935. Stuttgart 1984.
Thomas Widera