Wilfried Hartmann / Klaus Herbers (Hgg.): Die Faszination der Papstgeschichte. Neue Zugänge zum frühen und hohen Mittelalter (= Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii; 28), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2008, 213 S., ISBN 978-3-412-20220-0, EUR 34,90
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Von der "Faszination der Papstgeschichte besonders bei Protestanten" sprach Harald Zimmermann in seiner Tübinger Antrittsvorlesung von 1980, in der er die Ursachen für die intensive Beschäftigung des protestantischen Kirchenhistorikers Johann Friedrich Gaab mit der Person Papst Gregors VII. ergründete. 26 Jahre danach fand anlässlich seines 80. Geburtstages am gleichen Ort ein Kolloquium statt, das ganz im Zeichen neuer Forschungen zum mittelalterlichen Papsttum stand. Die dort vorgestellten Beiträge wurden zusammen mit anderen Forschungen zur Papstgeschichte des 8. bis 12. Jahrhunderts in dem hier zu besprechenden Band vereinigt.
Eröffnet wird die Reihe der Studien mit dem Wiederabdruck des auf seiner Antrittsvorlesung basierenden Aufsatzes von Zimmermann (11-27); die übrigen Untersuchungen folgen in chronologischer Ordnung. Drei der Beiträge werden durch die Verwendung der Papstregesten als Arbeitsinstrumentarium und durch die Analyse kirchenrechtlich relevanter Quellen verbunden: Wilfried Hartmann (71-80) und Ernst-Dieter Hehl (81-95) widmen sich den kanonistischen Kompetenzen der Päpste im 10. Jahrhundert, während Katrin Baaken die Präsentation zweier neuer Bände der Regesta Imperii mit Überlegungen zu den am urkundlichen Material aus dem Pontifikat Lucius' III. ablesbaren Kenntnissen des Papstes im Kirchenrecht verknüpft (199-204).
Der Großteil der Untersuchungen im Band konzentriert sich aber vor allem auf die verformende Kraft, die auf die Zeugnisse aus der Vergangenheit schon im direkten Umfeld ihrer Entstehung eingewirkt hat. So fragt zunächst Achim Thomas Hack in seinem Beitrag nach dem Grund für den Krieg Karls des Großen in Spanien im Jahr 778 und dessen Begründung, Stilisierung und Verformung in den zeitlich nahestehenden Quellen (29-54). Seine Analyse der Aussagen der sog. Einhards-Annalen und eines Schreibens Karls an Papst Hadrian zeigt, wie diese Quellen die militärische Auseinandersetzung als Eroberungs- oder Verteidigungskrieg darstellten. Die Untersuchung eines Briefs Hadrians I. aus dem Codex Carolinus, der älteren Metzer Annalen und der Vita Ludwigs des Frommen aus der Feder des Astronomus hingegen verdeutlicht, dass der Konflikt an anderer Stelle in einen religiösen Zusammenhang gerückt und - erstmals im Papstbrief - als Krieg gegen Ungläubige interpretiert wurde. In den beiden letztgenannten Quellen gewann der Krieg den Charakter eines Befreiungskrieges - ein möglicher Vorgriff auf ein Element der späteren Kreuzzugsideologie.
Der Hochphase des so genannten photianischen Schismas wendet sich Klaus Herbers in seinem Aufsatz zu (55-69). Kern seiner Untersuchung dieser Schlüsselepisode im Konflikt zwischen dem Papsttum und Byzanz bilden mehrere Kapitel der Vita Hadrians II. aus dem Liber pontificalis, deren Bericht sich als eine Mischung aus Erinnerungslücken und bewusster Verzerrung der Ereignisse der Jahre 869/70 erweist. Bei dem betreffenden Abschnitt handelt es sich um eine Darstellung, die stärker der Art und Weise, wie die Auseinandersetzung geführt wurde, als dem Gegenstand des Streits gewidmet ist. Sie bediente sich hagiographischer und providentialistischer Elemente, um mit dieser - von Anastasius Bibliothecarius initiierten - narrativen Ausgestaltung die griechischen Gegner als Lügner und Fälscher deutlich abzuwerten.
Mit seinem Blick auf die persönlichen Verbindungen Ottos I. nach Oberitalien und Rom in der frühen Phase seiner Herrschaft greift Herbert Zielinski die Frage auf, ob der Liudolfinger 962 einen günstigen Augenblick zur Kaiserkrönung nutzte oder ob er diese langfristig geplant hatte (97-107). Dabei deutet er die seit den dreißiger Jahren nachweisbaren Kontakte als Belege für eine frühe, zielstrebige Orientierung auf die Kaiserwürde. Die Distanz zu Ottos Bemühungen um die Kaiserkrone, die sich in den aus dem Umfeld des Hofes stammenden Quellen deutlich widerspiegelt, bewertet Zielinski als bewusste Stilisierung im Sinne der Demut und Zurückhaltung des Kandidaten, dem in den Augen der Zeitgenossen allein die Gnade Gottes die Kaiserkrone zuteil werden ließ.
Einem Papst des 11. Jahrhunderts widmet sich die Studie von Karl-Augustin Frech (109-132). Der Autor nimmt widersprüchliche Nachrichten der Quellen zum Todesdatum Gregors VI. zum Anlass, den Ursachen der chronologischen Unstimmigkeiten nachzuspüren. So vermag er die zunächst bei Wilhelm von Malmesbury überlieferte legendarische Darstellung Gregors VI. (in einem Anhang abgedruckt, 128-132) als kriegerischer Papst als spätere Überformung zu deuten: Ursprünglich hatte die Erzählung Papst Leo IX. als Protagonisten ins Zentrum gerückt, dessen frühe Verehrung als Heiliger allerdings eine solche Sichtweise nicht mehr zuließ. Seine Rolle übernahm Gregor VI., dem man im zeitgenössischen Verständnis ein kriegerisches Verhalten zuzuschreiben bereit war.
Chronologische Fehlleistungen bilden auch den Ausgangspunkt für die weitreichenden Überlegungen von Johannes Fried zum "Pakt von Canossa" im umfangreichsten Beitrag des Bandes (133-197). Der Autor widmet vor allem den in den zeitgenössischen Quellen erkennbaren "temporalen Verformungsmarkern" seine Aufmerksamkeit. Konkret räumt er der so genannten Königsberger Notiz einen höheren Stellenwert ein, als dies die Forschung bislang tat. So habe Gregor VII. selbst beabsichtigt, schon zum Epiphaniasfest am 6. Januar 1077 in Deutschland einzutreffen. Gestützt auf den Bericht Donizos, der in Frieds Argumentation der herausgehobene Status der "einzige[n] Kontrollerinnerung" eingeräumt wird (155), datiert er ferner die Bannlösung Heinrichs auf den 25. (nicht 28.) Januar (187). Die Folgen dieser Verschiebungen sind gravierend: Eingebettet in Gedanken zur Reisegeschwindigkeit, zu den Aufenthaltsorten des Papstes und zur Dauer seines Verweilens, zu den Kontakten mit den deutschen Fürsten und zu deren Absichten, deutet der Autor das Ereignis in Canossa als Resultat langfristiger Planungen und Absprachen mit Heinrich IV., die in einen Friedensvertrag mündeten. Gegen die namentlich aus dem Raum nördlich der Alpen stammenden Berichte der zeitgenössischen Chronisten, die starkes Interesse an einer für den deutschen König negativen verformenden Entstellung der Vorgänge besaßen und der Nachwelt damit ein Bild der Vorgänge überlieferten, das der Komplexität des Ereignisses nicht entspreche (186), minimiert Fried damit in letzter Konsequenz das Geschehen in seiner Tragweite von der "Wende" zu einem "Hoffnungsschimmer, der allzu schnell erlosch" (197) - eine Deutung, die in der Forschung zweifellos intensiv diskutiert werden wird.
Insgesamt bietet der Band, der durch ein Verzeichnis der Abkürzungen und ein Register der Orts- und Personennamen (205-213) abgerundet wird, mehr als nur punktuelle Einblicke in Probleme der Papstgeschichte in der aktuellen Forschung. Durch die Konzentration auf die zentralen Fragen nach den päpstlichen Kenntnissen im Bereich des Kirchenrechts und der Verformung der Erinnerung in der Geschichtsschreibung gewinnen die einzelnen Beiträge zudem an Kohärenz, der Band selbst an Geschlossenheit. Die Forschungen und ihre Ergebnisse bezeugen den Fortgang der Diskussion - und die ungebrochene Faszination der Papstgeschichte.
Andreas Fischer